Prämissen und ethische Implikationen des maschinellen Gedankenlesens

Autorin: Elena Krämer-Nagelschmidt

Seit der cartesianischen Vorstellung, alles Denken sei bewusst, haben insbesondere die Neurowissenschaften den Geist weitestgehend aus der Flasche gelassen und Denkprozesse als Verarbeitung elektrischer Erregung abbilden können. Dennoch galt unser Gehirn bisweilen als Black Box, die sich allein mittels Sprache Ausdruck verleihen kann und der auch eine technische Abbildung nicht gerecht wird. Medizinische Erkenntnisse und ein jüngerer Paradigmenwechsel in den Neurowissenschaften machen es nun zunehmend möglich, mittels der sogenannten bildgebenden Verfahren Einblicke in die Denkprozesse des wohl komplexesten menschlichen Organs zu gewinnen. Diese Verfahren – bei denen Prozesse des Gehirns abgebildet und verglichen werden können, um Rückschlüsse auf ihre Bedeutung zu erhalten – bieten weitgefächerte Anwendungsmöglichkeiten vom Einsatz in der Unterhaltungsindustrie bis hin zur Strafverfolgung, bringen aber auch ebenso weitreichende ethische Implikationen mit sich. Die Kurzdarstellung der folgenden Publikationen in dem vorliegenden Journal Club bieten einen kurzen Einstieg in einige der medizinischen und philosophischen Prämissen des mindreadings (Gedankenlesens) mittels bildgebender Verfahren und zeichnen einen Umriss ethischer Implikationen dieser Technik bei ihrem Einsatz in der Strafverfolgung.

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Wie Christian Helmut Wenzel in seinem Beitrag „Can thoughts be read from the brain? Neuroscience Contra Wittgenstein“ exemplifiziert, sind unsere Gedanken nichts als die Spitze des psychoanalytischen Eisbergs, der sich an die Oberfläche drängt, während unter ihm, im Unbewussten, eine noch größere Masse von Affekten und Gedanken schlummert. Diese Gedanken haben laut Hans-Johann Glock, auf den sich Wenzel bezieht, notwendigerweise einen Inhalt (in der Form „dass p“), der nur mittels der Sprache erfasst werden kann. Um genau dies zu dementieren, positioniert sich Wenzel gegen Wittgenstein und Kant. Gegen Wittgenstein, der die Meinung vertrat, dass nicht einmal Gott imstande sei, Gedanken des Menschen zu erkennen und dass die Gedanken, die in den Möglichkeiten und Grenzen der Sprache des Individuums ihren Ausdruck finden, aus dem intrinsischen „Chaos“ des Menschen entstehen – analog zu dem kantischen Samen, der in seiner Struktur keinerlei Deckungsgleichheit mit der Pflanze aufweist, die im Werden begriffen ist.

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Gegen Teichmann, Glock und Schröder, die mit Wittgenstein die These vertreten, Gedanken seien losgelöst von physischen Aktivitäten des Gehirns und als rein expressives, sprachlich gefasstes Phänomen ex nihilo aufzufassen, wendet sich Wenzel entschieden. Hier konstatiert er neben einer „inside-out-manifestation“ (IOM) eine „outside-in-manifestation“ (OIM) der Gedanken, die durch die externe, maschinelle Beobachtung dieser vollzogen wird. Zudem postuliert er kongruent mit der Psychoanalyse und in Abgrenzung zu Frege das „Reich der Gedanken“ als sowohl bewusst wie unbewusst. Das bedeutet für Wenzel keine Trennung der unbewussten Gedanken von physischen oder psychischen Prozessen des Wesens, sondern ließe sich vielmehr als Spektrum mit einer permeablen Grenze auffassen, bei der Gedanken aus dem Unterbewusstsein imstande sind, auch ins Bewusstsein zu gelangen und vice versa. Exemplarisch hierfür sind das Körpergedächtnis, wobei erlernte Praktiken zu unbewusst ausgeführten Fähigkeiten werden, oder auch, in entgegengesetzter Richtung, der „Einfall“, der spontan und scheinbar willkürlich im Bewusstsein auftaucht. Spontan, aber nicht „aus dem Chaos“, so meint Wenzel, denn auch im Gehirn herrsche eine systematische Ordnung (vgl. Wenzel [2022], 8).

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Namentlich aufgrund jüngerer Ergebnisse in der Debatte um „embodied mind“ stellt der Autor fest, dass das Denken sowie dessen Verbalisierung eng mit körperlichen Vorgängen verwoben ist. Somit wird die Wittgensteinsche Auffassung der aus dem Chaos entstehenden und nicht-beobachtbaren Gedanken als vorschnell und unbewiesen dementiert. Wenzel stellt sich kontrastierend die Frage, warum unser Gedankensystem nicht auf ein immanentes Zentrum rückführbar sein soll. Folgt man den Schlüssen der Kausalität, sollte ein Gedanke auf bewusster Ebene auf einem darunterliegenden, unbewussten Gedanken folgen, usw. Hier konstatiert Wenzel, dass zukünftige Maschinen in der Lage sein werden, Gedanken nicht nur zu erfassen, sondern auch in Töne und Schrift zu transformieren. Prä-linguistische Gedanken zu transformieren sei ein nächster, möglicher Schritt.

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Nachdem es in den vergangenen zehn Jahren zu einem Paradigmenwechsel kam und Studien mit EEG s und MRT s, ausgehend von geringen Proband:innenzahlen und geringer Aussagekraft, auch größere Proband:innenzahlen generieren konnten, gab es vor allem im Bereich der Technologien Neuerungen wie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), die Aktivitäten des Gehirns anhand der Oxygenierung, also des verbrauchten Sauerstoffs, sowie der magnetischen Ladung abbildet. Mithilfe dieser Technik lassen sich zum einen physische Anomalien wie Tumore etc. abbilden, zum anderen gewinnt diese Prozedur auch für das Strafrecht an Relevanz; dahingehend, dass mittels des fMRT Sätze und Wörter im Gehirn verortet und kartographiert werden können. Wenzel zitiert eine Studie, nach der es mittels Elektrokortikogramm möglich ist, Gedanken von Proband:innen nachzuvollziehen. Noch ist diese Technik allerdings unausgereift – es benötigt eine Individualisierung der Technik an die Person, das Limit des erkennbaren Vokabulars lag im Jahr 2020 noch bei 250 Wörtern. Dennoch kommt Wenzel zu der Konklusion, dass nicht allein sprachlicher Ausdruck das Vehikel für Denken ist und mindreading in Zukunft möglich sein kann.

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Sara Reardon sieht in ihrem Artikel „Mind-reading machines are here: is it time to worry?“ maschinelles Gedankenlesen ebenso als Option für die Zukunft an, wenngleich auch sie die Grenzen der Technik offenbar macht: Neben der begrenzten Anzahl erkennbarer Wörter sei das System auch mit Stand Mai 2023 noch anfällig für Manipulation der Proband:innen, wenn diese bspw. während eines bestimmten Inputs ihre Gedanken in eine andere Richtung lenken und so an etwas anderes denken. Zudem schleichen sich in das System auch noch gravierende Fehler ein, wie Missdeutungen und schlichte Fehltranskriptionen. So hat ein Decoder beispielsweise, in einer von Reardon zitierten Studie, den Satz ‚I just jumped out [of the car]‘ in den Satz ‚I had to push her out of the car‘ transkribiert. Dass diese Schwächen in Anwendungsgebieten wie der Strafverfolgung schwerwiegende Folgen haben können, ist offenbar. Ebenso wissen wir bisher zu wenig über menschliches Denken, um der Maschine abzuverlangen, neurologische Diversitäten zu erkennen und einzuordnen. So kann die Maschine beispielsweise nicht zwischen Gedanken und Zwangsgedanken mit problematischen Inhalten unterscheiden, wie sie bei Zwangsstörungen auftreten können. Reardon schließt, dass der Mensch trotz weit entwickelter Technik noch immer eine gravierende Handlungsmacht auf die Maschine ausüben kann und sieht diese noch nicht in der Lage, den Sinn der aneinandergereihten, begrenzten Wörter zu transferieren.

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Was die Maschine also noch nicht kann, ist, um mit Shannon Spaulding in ihrem Artikel „What is mindreading?“ zu sprechen, eine psychologische Theory of Mind auszubilden. Unter Theory of Mind versteht man nach Spaulding ein diverses psychologisches Phänomen mit vielerlei Ausprägungen, das aber insbesondere für die nähere Erläuterung herangezogen wird, wie menschliche Wesen sich in andere hineinversetzen und divergierende Perspektiven einnehmen können. Ein bekannter Test hierfür, den auch Spaulding beschreibt, ist der false-belief-test. Das Ziel des Testes ist es, dass die Proband:innen falsche Überzeugungen benennen können und somit beweisen, dass sie unterschiedliche Perspektiven einnehmen können. Der Testablauf wird vornehmlich bei Kindern ab vier Jahren durchgeführt; unter anderem auch, um Hinweise auf eine Autismus-Diagnose zu erhalten. Das Alter ist deshalb entscheidend, da Kinder bis zu einem Alter von vier Jahren in diesem Test meistens durchfallen, während Kinder ab einem Alter von vier Jahren eine so weit ausgebildete Theory of Mind bzw. Fähigkeit zum Gedankenlesen haben, dass sie sich in die gezeigten Personen hineinversetzen können und benennen können, was diese Personen für (richtige und falsche) Glaubenssätze haben. Menschen auf dem autistischen Spektrum gelingt dies tendenziell schlechter, da sie im Schnitt häufiger Probleme mit Perspektivübernahme haben. Die Fähigkeit zum mindreading sieht Spaulding als ein soziales Werkzeug, um verschiedene zwischen-menschliche Spielarten wie Sarkasmus, Ironie etc. verstehen zu können. Genau dies fehlt Maschinen, die zum Gedankenlesen eingesetzt werden, offensichtlich, sodass sie keine Zusammenhänge oder Gewichtungen in der Wortfolge erkennen können.

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Trotz der weitreichenden Einschränkungen und Grenzen der Technik beschreibt Árpád Budaházi in seinem 2022 erschienenen Beitrag „Limitations of Brain-based Lie Detection“ das „Brain Fingerprinting“ und dessen Möglichkeiten, das mittels fMRT und fNIRS durchgeführt wird. Bei dem in den 1980ern entwickelten Verfahren werden verschiedene Körperfunktionen gemessen und den Proband:innen Bilder gezeigt. Anhand dieser Bilder wird im Gehirn mittels multifacettierten elektroenzephalographischen Reaktionen („MERMER“) sichtbar, ob die betreffende Information zu dem Bild bereits im Gehirn vorhanden war und somit erkannt wird, oder nicht. Erkennt der:die Proband:in das Bild, können im Optimalfall Rückschlüsse auf eine Täter:innen- oder Zeug:innenschaft gezogen werden und es wird ersichtlich, ob etwa eine Person am Tatort war. Das Verfahren des fingerprinting wurde bereits in drei Fällen in den USA mit Erfolg angewandt – dennoch gibt es Vorbehalte, ob eine prinzipielle Anwendung adäquat ist; allein schon aus dem Grund, dass bei einem durchgeführten ‚Concealed Information Test‘ (ein Test, bei dem Proband:innen fälschlicherweise unterstellt wird, sie hätten etwas gestohlen), bei 9 von 10 Personen das betreffende neuronale Potenzial ausgelöst wurde, das bei Wiedererkennung aktiviert wird. Streitet ein:e Zeug:in oder eine beschuldigte Person also weiterhin ab, etwas über die Bilder zu wissen, obwohl dieses Potenzial ausgelöst wurde, kann man nicht auf eine Lüge, sondern rein auf eine Wiedererkennung schließen. Das allein würde demnach noch keine Schuld oder Unschuld der Testperson implizieren. Zudem kann man argumentieren, dass Techniken des maschinellen Gedankenlesens in die Persönlichkeits-rechte der Beschuldigten eingreifen und diese einem Zwang aussetzen, da eine fehlende Partizipation als Schuldeingeständnis ausgelegt werden könnte. Auch die angesprochene mentale Diversität erschwert eine klare Auslegung des Lügendetektortests, da man noch nicht weiß, wie sich Neurodiversitäten auf diesen auswirken. Technologien des Gedankenlesens haben noch viele Fallstricke zu überwinden, ihre Fortentwicklung scheint jedoch grundsätzlich möglich und würde bei einer Etablierung weitreichende Implikationen für Datenschutz, Persönlichkeitsrecht und Kriminalistik mit sich bringen. Ebenso denkbar wäre eine spätere Anwendung für Werbezwecke und Marketing sowie für Spiele, da Werbung und Spielerlebnis noch allumfassender individualisiert und auf persönliche Wünsche und Bedürfnisse angepasst werden könnte.

Bibliographie

Budaházi, Á. (2022). Limitations of Brain-based Lie Detection. Belügyi Szemle 70(1. ksz.), 69–87. 
DOI: 10.38146/BSZ.SPEC.2022.1.4.

Reardon, S. (2023). Mind-reading machines are here: is it time to worry? Nature 617(7960), 236. 
DOI: 10.1038/d41586-023-01486-z.

Spaulding, S. (2020). What is mindreading? Wiley Interdisciplinary Reviews: Cognitive Science 11(3), e1523. 
DOI: 10.1002/wcs.1523.

Wenzel, C.H. (2022). Can thoughts be read from the brain? Neuroscience Contra Wittgenstein. Synthese 200(3), 183. 
DOI: 10.1007/s11229-022-03504-5.


Weiterführende Literatur

Balusu, C., and Sales, A. (2023). Can Forensic Neuroimaging Be Ethical? The Rutgers Journal of Bioethics 14, 22–26.

Ligthart, S. (2020). Freedom of thought in Europe: do advances in ‘brain-reading’ technology call for revision? Journal of Law
and the Biosciences 7(1), lsaa048. DOI: 10.1093/jlb/lsaa048.

Ligthart, S. (2022). Brain-Reading Technologies. Their Legally Relevant Features. In: Lighthart, S., Ed., Coercive Brain-Reading in
Criminal Justice. An Analysis of European Human Rights Law, Cambridge, 9–34. DOI: 10.1017/9781009252447.003.

Ligthart, S.L.T.J. (2019). Coercive neuroimaging, criminal law, and privacy: a European perspective. Journal of Law and the
Biosciences 6(1), 289–309. DOI: 10.1093/jlb/lsz015.

Mecacci, G., and Haselager, P. (2019). Identifying Criteria for the Evaluation of the Implications of Brain Reading for Mental
Privacy. Science and Engineering Ethics 25(2), 443–461. DOI: 10.1007/s11948-017-0003-3.

Rathkopf, C., Heinrichs, J.H., and Heinrichs, B. (2022). Can we read minds by imaging brains? Philosophical
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Ritchie, J.B., Kaplan, D.M., and Klein, C. (2019). Decoding the Brain: Neural Representation and the Limits of Multivariate Pattern
Analysis in Cognitive Neuroscience. British Journal for the Philosophy of Science 70, 581–607.
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