Dammbruchargumente gegen PID
I. Allgemeines zu Dammbruchargumenten
Ein Dammbruchargument (auch „Argument der schiefen Ebene“ oder „slippery slope“) ist eine Argumentationsfigur, mit der eine Handlung, die für sich genommen moralisch akzeptabel ist, abschließend als moralisch unzulässig ausgewiesen wird, weil sie moralisch inakzeptable Konsequenzen hat. Allgemein lassen sich anhand von zwei möglichen Konsequenzen zwei Varianten von Dammbruchargumenten unterscheiden: die kausale Variante und die begriffliche Variante.
Die kausale Variante postuliert, dass die Einführung einer für sich genommen moralisch akzeptablen Praxis mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dazu führt, dass sich künftig auch eine moralisch inakzeptable Praxis etabliert. Deshalb sollte die für sich genommen moralisch akzeptable Praxis entgegen dem ersten Anschein besser nicht eingeführt werden. Eine wiederkehrende Schwachstelle kausaler Dammbruchargumente besteht darin, dass es in den meisten Fällen schwer bis unmöglich ist, seriös genaue Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten der unerwünschten Folge anzugeben. Selbst wenn in Einzelfällen plausible Wahrscheinlichkeiten ausgemacht werden können, so ist ein kausales Dammbruchargument nur dann valide, wenn die negative Folge hinreichend gewichtig und ihre Eintrittswahrscheinlichkeit hoch genug ist, um die absehbaren Vorteile aufzuwiegen, die mit der Einführung der moralisch akzeptablen Praxis einhergehen.
Die begriffliche Variante des Dammbrucharguments kommt häufig in einer bestimmten Spielart vor, der sogenannten Vagheitsvariante: Wenn Handlung (1) zulässig ist, dann ist auch eine minimal davon abweichende Handlung (2) zulässig, was wiederum eine darüberhinausgehende Handlung (3) rechtfertigt usw. So gelangt man schließlich zu einer Handlung (n), die für sich genommen moralisch inakzeptabel ist. Da Handlung (n) aber über eine Kette minimal abweichender Handlungen mit Handlung (1) logisch zusammenhängt, ist, so das Argument, bereits Handlung (1) unzulässig. Begriffliche Dammbruchargumente können daran scheitern, dass die minimalen Unterschiede zwischen den fraglichen Handlungen ethisch relevant sind, sodass nur die Einführung von Handlung (1) gerechtfertigt ist, nicht aber die Einführung von Handlungen (2) bis (n).
Ob ein Dammbruchargument die skizzierten theoretischen Mängel aufweist oder nicht, ist im Einzelfall zu prüfen.
II. Dammbruchargumentation im Fall von PID
Gegen die Zulässigkeit von PID zum Zweck der Früherkennung von Krankheiten mit anschließender Möglichkeit, den Embryo im Fall eines Gendefekts abzutöten, wird argumentiert, dass damit auch die Anwendung von PID zu anderen Zwecken (wie beispielsweise der Wahl eines Embryos anhand bestimmter Merkmale wie Augenfarbe oder Intelligenz) wahrscheinlicher werde (kausal) oder konsistenterweise auch in anderen Fällen zulässig sein müsste (begrifflich). Da PID jedoch jenseits der Früherkennung von Krankheiten nicht etabliert werden sollte, sollte PID auch nicht zum Zweck der Früherkennung von Krankheiten eingesetzt werden. Die kausale Variante dieses Dammbrucharguments ist, wie oben skizziert, nur dann erfolgreich, wenn plausible Wahrscheinlichkeiten für die drohende Ausweitung von PID geltend gemacht werden können und die negativen Konsequenzen (gewichtet mit ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit) die positiven Konsequenzen der PID (gewichtet mit der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens) überwiegen. Außerdem muss es sich, sollen kausales oder begriffliches Dammbruchargument funktionieren, bei der Ausweitung von PID tatsächlich um eine negative Konsequenz handeln. Eben dies wird seinerseits unter anderem via Dammbruchargumentation geltend gemacht:
Wenn einige werdende Eltern PID zu dem Zweck einsetzen würden, einen Embryo auszuwählen, der zu einem möglichst leistungsfähigen Menschen heranwachsen soll, dann, so ein kausales Dammbruchargument, entstünde gesellschaftlicher Druck auf andere werdende Eltern, das Genom ihrer Embryonen ebenfalls zu inspizieren und nach Leistungsfähigkeit indizierenden Kriterien auszuwählen. Denn in einer Gesellschaft mit genetisch selektierten Menschen dürfte (je nach prädiktiver Genauigkeit der PID) die Leistungsfähigkeit insgesamt höher sein als in einer Gesellschaft ohne entsprechende Selektion, was all diejenigen, die nicht selektiert wurden, tendenziell einem Wettbewerbsnachteil aussetzt. Infolge dessen würden bestehende Klassenunterschiede in einer Gesellschaft verschärft und perpetuiert, da sozioökonomisch besser gestellte Gruppen bei ihren Embryonen, zusätzlich zu den bereits bestehenden Vorteilen, PID anwenden würden. Vor dem Hintergrund dieser absehbaren Konsequenzen sei eine liberale rechtliche Regelung, die die Möglichkeit der PID zu anderen Zwecken als der Früherkennung von Krankheiten zulassen würde, ethisch unzulässig. Auch wenn die Frage nach einer konkreten Eintrittswahrscheinlichkeit (oder auch nur einem Wahrscheinlichkeitsbereich) der Wettbewerbsdynamik schwer zu beantworten ist, so scheint eine solche Entwicklung nicht vollkommen fernliegend. Hoch spekulativ ist indes die Anschlussfrage, ob eine ungleichere, weil teils auf Grundlage von leistungsorientierter PID entstandene Gesellschaft für die sozioökonomisch schlechter gestellten Gruppen insgesamt vorteilhaft (höheres BIP, höhere Sozialausgaben etc.) oder nachteilig (Wettbewerb, Geringschätzung usw.) wäre. Eben diese Information könnte allerdings die ethische Bewertung des Einsatzes von PID zu anderen Zwecken als der Früherkennung von Krankheiten beeinflussen, sodass das Dammbruchargument gegen PID zum Zweck höherer Leistungsfähigkeit in der Schwebe bleibt.
Weiterführende Literatur zur allgemeinen Struktur von Dammbruchargumenten:
Burg, W. (1991): The Slippery Slope Argument. In: Ethics 102, 42–65.
Dübner, D. / Rojek, T. (2015): Argument der schiefen Ebene. In: D. Sturma / B. Heinrichs (Hg.), Handbuch Bioethik. Heidelberg: J.B. Metzler Stuttgart, 9–13.
Guckes, B. (1997): Das Argument der schiefen Ebene. Schwangerschaftsabbruch, die Tötung Neugeborener und Sterbehilfe in der medizinethischen Diskussion. Stuttgart: Gustav Fischer Verlag.
Habermas, J. (2001): Die Zukunft der menschlichen Natur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Walton, Douglas (1992): Slippery Slope Arguments. New York: Oxford University Press.
Weiterführende Literatur zu Dammbruchargumenten gegen PID:
Netzer, C. (1998): Führt uns die Präimplantationsdiagnostik auf eine Schiefe Ebene? In: Ethik in der Medizin 10: 138–58. Online Version
Petersen, T. (2005): Just diagnosis? Preimplantation genetic diagnosis and injustices to disabled people. In: Journal of Medical Ethics 31 (4): 231–234. Online Version (Englisch)
Hammerstein, A. / Eggel, M. / Biller-Andorno, N. (2019): Is selecting better than modifying? An investigation of arguments against germline gene editing as compared to preimplantation genetic diagnosis. In: BMC Medical Ethics 20 (83): 1–13. Online Version (Englisch)