Medizinethische Fragestellungen zur Autonomie
Autor: Roman Wagner
Das Prinzip der Achtung der Autonomie ist eines der am häufigsten diskutierten Prinzipien der Medizinethik. Das ethische Interesse an diesem Prinzip ist im Zuge sowohl von Fällen moralisch nicht rechtfertigungsfähigen Verhaltens durch ärztliches Fachpersonal als auch von gesellschaftlichen Entwicklungen gewachsen. Das traditionelle Diktum „doctor knows best“, welches die epistemische Überlegenheit ausgebildeter Ärzt:innen gegenüber ihren Patient:innen betonte, wich zunehmend dem Selbstverständnis letztgenannter, auf Basis eigener Wertvorstellungen und der eigenen Urteilskraft informierte selbstbestimmte Entscheidungen bezüglich möglicher Eingriffe in den eigenen Körper treffen zu können.
Uneinigkeit herrscht im philosophischen Diskurs allerdings unter anderem in der Frage, was wir im Allgemeinen und im Einzelnen unter Autonomie zu verstehen haben. Sollen wir Autonomie hierarchisch oder nichthierarchisch, vernünftig oder arational, internalistisch oder externalistisch, moralisch oder amoralisch, individualistisch oder relational deuten? Für jede der genannten Autonomietypen werden im philosophischen Diskurs Argumente vorgebracht. Insbesondere das letztgenannte Begriffspaar wurde in den vergangenen Jahren vermehrt diskutiert. Der Streitpunkt betrifft hier die Frage, ob Autonomie ein Merkmal eines Individuums ist oder nur innerhalb bestimmter sozialer Strukturen gedacht und realisiert werden kann.
Eine andere philosophische Fragestellung im Kontext der Autonomiedebatte betrifft die richtige Gewichtung des Prinzips der Achtung vor Autonomie gegenüber anderen, in Einzelfällen widerstreitenden Prinzipien. Da weite Teile des medizinethischen Diskurses von prinzipienethischen Grundannahmen ausgehen, ist die Frage des Prinzipienkonflikts in Anbetracht des Pluralismus nichtreduktiver Prima-facie-Pflichten ein wesentliches Merkmal der Debatte. Dabei besteht Einigkeit darüber, dass solche Abwägungsfragen nicht im Abstrakten, sondern nur mit Blick auf Situationstypen oder sogar nur mit Blick auf spezifische Einzelsituationen entschieden werden können. Es sollte aber zugleich nicht überraschen, dass der konzeptionelle Zuschnitt der Autonomie Einfluss auf solche Gewichtungsfragen nehmen kann.
Beide Fragen – die Frage nach der Natur von Autonomie und die Frage des relativen Gewichts des Prinzips der Achtung vor Autonomie gegenüber anderen ethischen Prinzipien – bedürfen einer philosophischen Analyse. Diese Aufgabenstellungen haben in den vergangenen Jahren eine Reihe von Publikationen motiviert, von denen im Folgenden drei besprochen werden.
Anna Hirsch beleuchtet in ihrer Arbeit „Relational autonomy and paternalism – why the physician-patient relationship matters“ die Frage, wie in einer bestimmten Klasse von medizinethisch relevanten Fällen der Gefahr des Paternalismus als autonomieuntergrabender Einflussnahme begegnet werden kann. In solchen Fällen gerät entweder das Prinzip des Wohltuns (Benefizienz) oder zumindest des Nichtschadens (Non-Malefizenz) mit dem Prinzip der Achtung vor Autonomie in Konflikt oder die für Autonomie eigentlich notwendige Offenlegung von Informationen würde die Autonomie des Gegenübers einschränken oder vollständig blockieren. Dies tritt typischerweise in solchen Fällen auf, in denen das für Selbstbestimmung notwendige Wissen entweder großes Leid verursachen oder zugleich Autonomie untergraben würde, weil das betreffende Wissen die Personen in einen psychischen Zustand – Panik, Angst etc. – versetzen würde, der die Entscheidungsfähigkeit der Patient:in beeinträchtigen würde. Situationen dieser Art sind mit der Gefahr des Paternalismus wesentlich verknüpft. Sollten Ärzt:innen ihren Patient:innen Diagnosen vorenthalten, wenn sie wissen, dass diese den behandelten Personen entweder Leid zufügen oder ihre vernünftige Entscheidungsfindung sowohl in als auch außerhalb des medizinischen Kontextes erschweren oder sogar unmöglich machen würden? Mit Verweis auf das Prinzip des Wohltuns oder Nichtschadens könnte eine solche Handlungsweise gerechtfertigt werden, es ist aber nicht schwer zu sehen, wie sie zugleich zumindest unter einer bestimmten Konzeption von Autonomie das Prinzip der Achtung vor Autonomie verletzt.
In diesem Zusammenhang bespricht Anna Hirsch das Konzept des Maternalismus in relationalen Theorien der Autonomie. Die Person, die die maternale Rolle einnimmt, entscheidet im Sinne sowohl des Wohltuns und Nichtschadens wie auch im Sinne der Achtung vor der Autonomie ihres Gegenübers. Ein maternalistisches Verhältnis ist Hirschs Ausführungen zufolge im Gegensatz zu einem paternalistischen durch eine relationale und eine epistemische Bedingung gekennzeichnet. Gemäß der relationalen Bedingung muss das Verhältnis der Personen durch gegenseitiges Vertrauen geprägt sein, während die epistemische Bedingung verlangt, dass diejenige Person, welche die maternalistische Rolle einnimmt, ihr Gegenüber gut genug kennt, um durch den maternalistischen Akt die Autonomie ihres Gegenübers nicht zu unterminieren. Während Hirsch betont, dass diese beiden Bedingungen auf problematische Weise deutungsoffen sind, nimmt sie das maternalistische Modell zum Ausgangspunkt und konkretisiert die genannten Bedingungen, während sie im weiteren Verlauf den geläufigeren Begriff des Paternalismus verwendet, um zu zeigen, wie ein ethisch rechtfertigungsfähiger Paternalismus konzipiert werden kann. Hirsch argumentiert, dass in Fällen, in denen zwischen Ärzt:in und Patient:in ein langfristiges, kontinuierliches und bedeutsames Verhältnis besteht, welches aufseiten der Ärzt:in unter anderem durch ein umfangreiches Verständnis der narrativen Identität ihrer Patient:in gekennzeichnet ist, das Verschweigen von für Selbstbestimmung relevanter Informationen in Situationen der oben besprochenen Art gerechtfertigt sein kann.
Diese Überlegungen werden von Hirsch um ein Annerkennungsverständnis von Autonomie ergänzt, welches als Spielart relationaler Theorien weitere begriffliche Werkzeuge liefert, um zu erklären, wie paternalistisches Handeln unter gewissen Umständen autonomiefördernd sein kann. Der Grundgedanke dieses Autonomieverständnisses besteht darin, dass Autonomie durch ein bestimmtes Anerkennungsverhältnis konstituiert ist. Autonomie kann diesem Verständnis zufolge nur im Kontext eines bestimmten relationalen Rahmens manifestiert werden, da dieser Rahmen die Bedingung für die Entwicklung eines für Autonomie notwendigen Selbstvertrauens (self-confidence) ist. Stärkt die – zumindest zeitweise – Nichtoffenlegung bestimmter, die Person selbst betreffender Informationen ihr Selbstvertrauen, kann auf Basis eines solchen relationalen Autonomieverständnisses die Nichtoffenlegung als autonomiefördernde Maßnahme verstanden werden. Hirsch betont dabei zwar, dass die von ihr besprochenen Kriterien eines autonomiefördernden und moralisch gerechtfertigten Paternalismus im medizinischen Alltag nur selten erfüllt werden können, argumentiert zugleich aber, dass ein solches Verhältnis als eine Art regulatives Ideal dazu dienen könnte, das Verhältnis zwischen Ärzt:innen und Patient:innen so zu strukturieren, dass die genannten Prinzipienkonflikte besser gehandhabt werden können.
Auch Kar-Fai Foo, Ya-Ping Lin, Cheng-Pei Lin sowie Yu-Chun Chen stellen in ihrem Text „Fostering relational autonomy in end-of-life care: a procedural approach and three dimensional decision-making model“ ein relationales Autonomieverständnis vor, welches sie mit einer modifizierten Form von John Christmans diachronischem Autonomiebegriff verknüpfen. Die so gewonnene Autonomiekonzeption wird von Foo et al. dazu genutzt, ein ethisch fundiertes Entscheidungsmodell für medizinische Fragestellungen zu entwickeln, die das Ende des Lebens betreffen. Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass in medizinethisch relevanten Situationen das Einholen einer informierten Einwilligung nicht hinreichend ist, um sicherzustellen, dass Patient:innen autonom entschieden haben. Aus der Perspektive des relationalen Autonomieverständnisses wird stattdessen geltend gemacht, dass es geboten sei, im Entscheidungsfindungsprozess der Patient:innen nicht nur nahestehende Angehörige einzubeziehen, sondern auch die relevanten historischen, religiösen, kulturellen und sozialen Kontexte zu berücksichtigen, welche die spezifische Form der Selbstbestimmung der Patient:innen prägen.
Um diesen über das Einholen einer informierten Einwilligung hinausgehenden Bedingungen der Achtung vor Autonomie in der Praxis des medizinischen Alltags gerecht zu werden, verweisen Foo et al. auf das Konzept der Authentizität im Rahmen einer multidimensionalen Theorie relationaler Autonomie. Im Mittelpunkt steht hierbei John Christmans Arbeit zum Autonomiebegriff, die insbesondere der diachronen und soziohistorischen Dimension der Autonomie Rechnung trägt. Im Gegensatz zu rein internalistischen Positionen der Autonomie, welche allein auf die innerpsychische Beschaffenheit einer Person im Moment der Entscheidungsfindung abstellen, betrachten diachrone Autonomiekonzeptionen auch die Frage der Genealogie und sozialen Einbindung der relevanten normativen Entscheidungsgrundlagen, also der Überzeugungen und Werte einer Person. Im Gegensatz etwa zu Harry Frankfurt und Gerald Dworkin denkt Christman also das Selbst als wesentlich soziale Entität und gewinnt aus dieser Konzeption ein relationales Autonomieverständnis, welches seinerseits das Verständnis authentischer Entscheidungen prägt. Authentisch ist demnach eine Entscheidung von der die Entscheidung treffende Person nicht entfremdet ist. Um zu prüfen, ob das der Fall ist, schlägt Christman einen „non-alienation“-Test vor, welcher nicht nur kognitive Urteile der entscheidenden Person beachtet, sondern auch ihre emotionalen Reaktionen – so etwa starke Zustimmung oder Ablehnung sowie gewichtigen Widerstand gegenüber bestimmten Merkmalen ihrer eigenen normativen Entscheidungsgrundlagen. Eine Person entscheidet also dann authentisch, wenn sie nicht in der genannten Weise von ihren eigenen gesellschaftlich vermittelten Überzeugungen und Werten entfremdet ist.
Mithilfe einer leicht modifizierten Version dieser Konzeption der Autonomie analysieren Foo et al. den Falltyp, in dem Patient:innen Entscheidungen am Lebensende treffen müssen. Insbesondere in Fällen, in denen Patient:innen aufgrund von Erkrankungen – etwa Demenz –kognitiv eingeschränkt sind, hilft das besprochene relationale Verständnis von Autonomie und Authentizität dabei, die Autonomie der Patient:innen zu wahren, wenngleich diese ihre eigene Lage nicht mehr vollständig erfassen können. Diese modifizierte Version betont drei Achsen autonomer Entscheidungsfindung: Kompetenz, Authentizität und die Einbindung nahestehender Angehöriger. Anhand eines Fallbeispiels skizzieren Foo et al. abschließend, wie die Achtung dieser Achsen das Ärzt:innen-Patient:innen-Verhältnis auf eine Weise strukturieren kann, die der relationalen Autonomie auch kognitiv eingeschränkter Patient:innen Rechnung trägt.
José M. Muñozs, Javier Bernácers sowie Francisco Güells „A Conceptual Framework to Safeguard the Neuroright to Personal Autonomy“ beleuchtet Fragestellungen der Autonomie im neuroethischen Kontext. Muñoz et al. thematisieren hierbei primär die konzeptionelle Frage, wie die Begriffe des freien Willens und der kognitiven Freiheit verstanden werden sollten, um auf Basis dieser Grundlagen ein weit verbreitetes Verständnis des Entscheidungsbegriffs zu kritisieren, das Handlungen in drei zeitlich aufeinander folgende Phasen aufteilt: Absicht, Entscheidung und Handlungsrealisation. Abschließend argumentieren sie für die Etablierung eines Neurorechts zur personalen Autonomie, welches das Recht auf Willensfreiheit und kognitiver Freiheit in sich vereint.
Hintergrund dieser Analyse sind die in den vergangenen Jahren entwickelten technologischen Möglichkeiten zur direkten Beeinflussung kognitiver Prozesse etwa durch Gehirn-Computer Schnittstellen, bildgebende Verfahren, Gehirnimplantate oder Neuropharmaka. Diese technologischen Mittel bieten nicht nur neue Möglichkeiten zur Behandlung neurologischer und psychischer Erkrankungen, sondern bergen auch das Potenzial, Autonomie zu unterminieren. Angesichts dieser Gefahr besprechen Muñoz et al. den Vorschlag der Modifikation des aktuellen Menschenrechtskodizes um spezifische Neurorechte. Aspekte der menschlichen Existenz, die durch solche Rechte geschützt werden könnten, wären etwa jene der kognitiven Freiheit, der mentalen Privatsphäre, der mentalen Integrität, der psychologischen Kontinuität, des freien Willens oder der personalen Identität. Im Mittelpunkt des Interesses stehen hierbei für Muñoz et al. die Rechte auf freien Willen und kognitive Freiheit.
Die Autoren besprechen zwei Vorschläge, diese Rechte auszubuchstabieren. Das Recht auf freien Willen wird hierbei diskutiert als Recht, die letztgültige (ultimate) Kontrolle über die eigenen Entscheidungen zu haben, ohne unwissentlich durch externe Neurotechnologien manipuliert zu werden. Das Recht auf kognitive Freiheit bezieht sich auf das Recht, die eigenen mentalen Zustände durch Neurotechnologien entweder selbstständig zu ändern oder eine solche Änderung zurückzuweisen.
Muñoz et al. beleuchten beide genannten Neurorechte im Kontext freiwilliger menschlicher Handlungen. Einer weit verbreiteten Handlungstheorie zufolge sind Handlungen durch eine zeitliche Sequenz gekennzeichnet, die in praktischer Deliberation beginnt, über die Absichtsbildung zur Entscheidungsfindung läuft und schließlich in der Handlungsrealisation mündet. Handlungstheorien, die diesem Modell folgen, analysieren Handlungen also durch die Elemente der Deliberation, Absichtsbildung, Entscheidung und Handlungsausführung als zeitlich aufeinander folgende Sequenzen, wobei Muñoz et al. sich in ihrer Analyse auf die drei letztgenannten Elemente fokussieren. Wird von einem solchen Modell ausgegangen, betrifft das Recht auf kognitive Freiheit die Frage, ob und inwiefern in jene Gehirnzustände eingegriffen werden darf, die die Handlungsentscheidung betreffen, ohne die Relevanz dieser Hirnprozesse auf die folgende Handlung mitzubedenken. Diese Festlegung führt den Autoren zufolge zu Unklarheiten in der Auslegung der genannten Neurorechte.
Muñoz et al. argumentieren vor diesem Hintergrund für einen handlungstheoretischen Ansatz, in dem die genannten Elemente in einer zeitlich synchronen Einheit gedacht werden. In diesem Bild stehen Absicht, Entscheidung und Handlungsrealisation also nicht in einer sequentiellen, sondern synchronen Ordnung. Absicht und Entscheidung sind demnach nicht der Handlung selbst zeitlich vorgelagerte Ereignisse, welche die Handlung auslösen, vielmehr ist die Handlung zu jedem Zeitpunkt als Einheit aus Absicht, Entscheidung und Handlungsausführung zu denken. Indem die Autoren auf diese Weise Handlungen als Einheit der genannten Elemente denken, kommen sie zum Schluss, dass die bislang besprochenen Neurorechte auf Willensfreiheit und auf kognitive Freiheit unter dem Recht auf personale Autonomie zusammenfallen. Dieses übergreifende Recht wird von Muñoz et al. so gedacht, dass es gleichermaßen die interne – also die kognitiven Prozesse, die mit der Handlungsrealisierung verknüpft sind – wie auch die externe Dimension – also die physische Ausführung – freien Handelns schützt.
Bibliographie
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