Alternative Verfahren zur Gewinnung von embryonalen Stammzellen
In den Jahren 2006 und 2007 publizierte das wissenschaftliche Team um den Mediziner Robert Lanza verschiedene Studien über ein Verfahren mit dem es möglich ist, humane embryonale Stammzellen zu gewinnen, ohne den Embryo dabei zu zerstören. Bei der sogenannten blastomeren Extraktion wird einem Embryo im Acht-Zell-Stadium mithilfe einer Biopsie-Technik, die auch bei der Präimplantationsdiagnostik zur Anwendung kommt, eine einzelne Blastomerzelle entnommen. Um aus der Zelle Stammzellen zu gewinnen, wurde sie anschließend in einer Stammzellkolonie im Reagenzglas zur weiteren Teilung angeregt. In späteren Versuchen gelang die Gewinnung von Stammzellen auch ohne die Kultivierung in bereits bestehenden Stammzellkolonien. Die biopsierten Spendenden-Embryonen bleiben bei dem Verfahren erhalten und grundsätzlich entwicklungsfähig, jedoch sind sie in ihrer anschließenden Entwicklung oftmals verlangsamt und können überdies bei der Zellentnahme beschädigt werden.
Ein ähnliches Verfahren zur embryonenerhaltenden Gewinnung embryonaler Stammzellen geht von einzelnen Zellen der inneren Zellmasse (ICM) im Entwicklungsstadium der Blastozyste aus, zielt also auf einen späteren Zeitpunkt der embryonalen Entwicklung ab, nämlich auf die Tage 5 bis 6, an dem sich die Zellen bereits in verschiedene Zellarten differenziert haben und somit nicht mehr als totipotent gelten. Da einzelne Zellen im Acht-Zell-Stadium noch totipotent sein können und die Entnahme von totipotenten Zellen aus einem Embryo nach § 2 Abs. 1 des ESchG untersagt ist, ist das als erstes geschilderte Verfahren der blastomeren Extraktion in Deutschland nicht zulässig (vgl. Blickpunkt „Präimplantationsdiagnostik”, Rechtliche Aspekte). Allerdings ist auch die Entnahme von pluripotenten Zellen im späteren Blastozystenstadium rechtlich umstritten, wie eine Auseinandersetzung zwischen Ralf Dittrich und Timo Faltus zeigt. Ein zentraler Einwand besteht dabei darin, dass der Embryo bei beiden Verfahren in der Regel nicht zerstört, aber zumindest für die Zwecke Dritter instrumentalisiert wird. Einer Etablierung der Verfahren steht weiterhin entgegen, dass die Biopsie-Techniken ein hohes technisches Geschick erfordern.
In ethischer Hinsicht weniger bedenklich scheint ein Verfahren, bei dem Stammzellen aus arretierten Embryonen gewonnen werden. Arretierte Embryonen entstehen bei über der Hälfte aller künstlichen Befruchtungen (IVF). Nach oft mehreren erfolgreichen Zellteilungen kommt es bei vielen befruchteten Eizellen infolge von chromosomalen Abweichungen zu einem natürlichen Abbruch der Entwicklung. Dauert dieser Stillstand mehr als 24 Stunden an, gelten die Embryonen als nicht mehr entwicklungsfähig und daher auch als „tot”. In einer Studie des Forschungsteams um Miodrag Stojkovic wurde gezeigt, dass es unter den richtigen in vitro Bedingungen möglich ist, aus spät arretierten Embryonen pluripotente embryonale Stammzelllinien abzuleiten. Obzwar arretierte Embryonen nicht mehr zur Zellteilung und Weiterentwicklung fähig sind, können sie doch einzelne entwicklungsfähige Zellen enthalten, die für die Gewinnung von Stammzellen eingesetzt werden können. Die Wissenschaftler*innen zeigten, dass das Verfahren technisch möglich, bisher jedoch nicht ausreichend effizient ist. Auch muss geklärt werden, ob die so gewonnenen Stammzellen in ihren Eigenschaften den aus voll entwicklungsfähigen Embryonen gewonnenen Stammzellen entsprechen.
Die dargestellten alternativen Verfahren zur Gewinnung embryonaler Stammzellen haben bislang keine große Verbreitung erfahren. Neben den technischen Anforderungen, verbleibender Vorbehalte der Gesetzgebenden (z. B. in Deutschland) und einer meist geringen Effizienz der Verfahren liegt dies vor allem in der Zugänglichkeit von bestehenden embryonalen Stammzelllinien begründet. Ebenso sind die etablierten Verfahren, in denen die Fortentwicklung der Embryonen unterbrochen wird, in vielen Ländern an sogenannten überzähligen Embryonen aus IVF-Verfahren zulässig und vergleichsweise effizient.
Einen Überblick über alternative Verfahren zur Gewinnung von pluripotenten Stammzellen gibt M. L. Condic:
Rao, M. / Condic, M. L. (2008): Issues in Development. Alternative Sources of Pluripotent Stem Cells: Scientific Solutions to an Ethical Dilemma. In: Stem Cells and Development 17, 1–10. doi: 10.1089/scd.2008.0013 Online Version (Englisch)
Die im Text erwähnten Studien:
Klimanskaya, I. / Chung, Y. / Becker, S. / Lu, S. / Zdravkovic, T. / Ilic, D. / Genbacev, O. / Fisher, S. / Krtolica, A. / Lanza, R. (2007): Human Embryonic Stem Cell Lines Generated without Embryo Destruction. In: Cell Stem Cell Correspondence 2(2), 113–117. doi: 10.1016/j.stem.2007.12.013 Online Version (Englisch)
Dittrich, R. / Beckmann, M. W. / Würfel, W. (2015): Non-embryo-destructive Extraction of Pluripotent Embryonic Stem Cells: Implications for Regenerative Medicine and Reproductive Medicine. In: Geburtshilfe und Frauenheilkunde 75, 1239–1242. doi: 10.1055/s-0035-1558183 Online Version (Englisch)
Faltus, T. / Storz, U. (2016): Response to: Dittrich et al.: Non-Embryo-Destructive Extraction of Pluripotent Embryonic Stem Cells – Overlooked Legal Prohibitions, Professional Legal Consequences and Inconsistencies in Patent Law. In: Geburtshilfe und Frauenheilkunde 76, 1302–1307. doi: 10.1055/s-0042-110400 Online Version (Englisch)
Dittrich, R. / Beckmann, M. W. / Würfel, W. (2016): Reply to “Response to: Dittrich et al.: Non-Embryo-Destructive Extraction of Pluripotent Embryonic Stem Cells – Overlooked Legal Prohibitions, Professional Legal Consequences and Inconsistencies in Patent Law”. In: Geburtshilfe und Frauenheilkunde 76, 1308–1309. doi: 10.1055/s-0042-116545 Online Version (Englisch)
Zhang, X. / Stojkovic, P. / Przyborski, S. / Cooke, M. / Armstrong, L. / Lako, M. / Stojkovic, M. (2006): Derivation of human embryonic stem cells from developing and arrested embryos. In: Stem Cells 24(12), 2669–2676. doi:10.1634/stemcells.2006-0377 Online Version (Englisch)