Poliomyelitis (Kinderlähmung)
Der Infektionsweg der Kinderlähmung (Poliomyelitis) gab Forschenden lange Zeit Rätsel auf. Erst 1948 wurde er von John Enders und seinen Kolleg*innen entdeckt.
Die experimentelle Methode, das heißt die Erforschung einer Krankheit am "Modellorganismus", erwies sich bei der Erforschung der Kinderlähmung als irreführend. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Simon Flexner Leiter des Rockefeller Institute for Medical Research (New York, USA) und eine führende Autorität in der Erforschung der Kinderlähmung. Er war zugleich ein Verfechter der tierexperimentellen Methode. Er erforschte den Infektionsweg der Poliomyelitis bei Rhesusaffen und kam zu dem Ergebnis, dass der Virus über die Nasenschleimhäute übertragen werde und über den Geruchsnerv zum Gehirn und zum Rückenmark wandere. Flexner hielt die Ergebnisse seiner Forschung an Rhesusaffen für auf den Menschen übertragbar. Tatsächlich jedoch ist der Infektionsweg beim Mensch anders als beim Rhesusaffen: Beim Menschen gelangt der Poliovirus über den Mund in den Körper und vermehrt sich anschließend im Darm, bevor er die Nervenzellen des Rückenmarks befällt.
Verschiedene Autor*innen vertreten die These, dass der Infektionsweg wesentlich schneller entdeckt worden wäre, wenn die Forschung sich nicht einseitig auf die Ergebnisse der Tierversuche konzentriert hätte, sondern die Forschung an menschlichen Erkrankten (Gewebeproben etc.) stärker berücksichtigt worden wäre. In diesem Sinne wird die Geschichte der Polioforschung verschiedentlich als Argument für eine Verlagerung der Forschung - von Tierversuchen auf tierversuchsfreie Methoden - herangezogen.
LaFolette, Hugh / Shanks, Niall (1994): Animal experimentation: the legacy of Claude Bernard. In: International Studies in the Philosophy of Science 8 (3): 195-211.
Paul, John R. (1971): A History of Polyomyelitis. New Haven: Yale University Press (Yale Studies in the History of Science and Medicine 6), insbesondere 107-252.