Prädiktive genetische Testverfahren
Stand: Januar 2024
Ansprechpartner: Roman Wagner
Unter dem Begriff "genetischer Test" bzw. "genetische Untersuchung" werden Methoden zusammengefasst, die unmittelbaren Aufschluss über die genetische Ausstattung eines Organismus, auch Genom genannt, geben können. Bei genetischen Untersuchungen findet eine Analyse von Genen oder Genprodukten statt. Die DNA-Analyse stellt nicht die einzige Untersuchungsmethode dar, anhand derer Erkenntnisse über die genetische Konstitution eines Menschen erlangt werden können: Zu diesen zählen zudem etwa bildgebende Verfahren wie Röntgen- oder Computertomografie oder auch das bloße Ansehen einer Person. Von Zysten durchsetzte Nieren lassen beispielsweise auf eine bestimmte erblich bedingte Nierenerkrankung schließen.
Gentests sind Untersuchungen zum gezielten Nachweis krankheitsverursachender (pathogener) Veränderungen bzw. Mutationen der Erbsubstanz. Neben diesem primären Zweck könnten genetische Untersuchungen im Rahmen sogenannter Direct-to-consumer-Gentests auch genutzt werden, um Merkmale ohne jeden Krankheitswert festzustellen.
Postnatale prädiktive Diagnostik dient der Identifizierung von Genen bzw. Gendefekten, die zur Erkrankung im späteren Leben führen oder hierzu disponieren. Genetische Tests im Kindes- und Erwachsenenalter (postnatale Untersuchungen) sind dabei von denen abzugrenzen, die vorgeburtlich (pränatal), präimplantiv (Präimplantationsdiagnostik) oder an Eizellen (Polkörperdiagnostik) durchgeführt werden. Hintergründe hierzu werden in dem Blickpunkt Präimplantationsdiagnostik dargestellt. Entscheidend für die jeweilige Bezeichnung ist der Untersuchungszeitpunkt.
Ein Gentest wird als prädiktiv bezeichnet, wenn die Untersuchung bei einer Person durchgeführt wird, die zum Zeitpunkt der Untersuchung noch keine Symptome einer Erkrankung zeigt.
Die genetische Diagnostik bei einer klinischen Verdachtsdiagnose gehört somit nicht zu prädiktiven Testverfahren. Hierbei wird ein Gentest an einer bereits erkrankten Person durchgeführt, um eine zuvor vermutete Diagnose bestätigen oder verwerfen zu können. So kann beispielsweise bei einer unklaren kindlichen Muskelerkrankung durch die molekulargenetische Untersuchung eine spinale Muskelatrophie diagnostiziert werden. Anhand prädiktiver genetischer Testverfahren wird untersucht, ob eine Mutation vorliegt, welche auf die Disposition für eine Krankheit schließen lässt. Genmutationen sind Veränderungen der Erbinformation auf einem Abschnitt der DNA, der für ein bestimmtes Protein codiert. Eine solche Änderung kann entweder spontan erfolgen oder durch äußere Einflüsse hervorgerufen werden. Umweltinduzierte Mutationen können durch Umweltfaktoren, wie z. B. radioaktive oder auch ultraviolette Strahlung ausgelöst werden.
Positiv getestete Personen müssen jedoch nicht zwangsläufig erkranken. Über 90 % aller Mutationen wirken sich auf den Phänotyp des Lebewesens in keiner Weise aus, sie sind harmlos. Man spricht hier auch von "neutralen Mutationen", welche sich ausschließlich auf den Genotyp beziehen.
Weniger als 10 % aller Mutationen haben eine mehr oder weniger starke Auswirkung auf den Phänotyp und können zu Krankheiten führen. Die Durchschlagskraft, mit der ein Merkmal im Einzelfall tatsächlich wirksam wird, bezeichnet man als Penetranz.
Anhand derselben genetischen Methoden lassen sich verschiedene Untersuchungen durchführen, die sich hinsichtlich der Aussagekraft und der Qualität der erhobenen Informationen sowie der intendierten Zwecke unterscheiden.
Unterschiedliche Testarten sind:
- Die prädiktive Diagnostik im engeren Sinne, anhand derer das Vorliegen einer genetisch bedingten Disposition vor dem Ausbruch einer Krankheit diagnostiziert werden kann.
- Der Heterozygotentest, bei dem untersucht wird, ob eine Anlageträgerschaft (Heterozygotie) vorliegt, von der auf eine autosomal-rezessive oder X-chromosomal-rezessive Vererbung einer Erkrankung geschlossen werden kann. Demgegenüber abzugrenzen sind Screening-Programme, welche das Vorliegen von Anlageträgerschaften nicht nur bei einzelnen Personen, sondern in größeren Personengruppen, wie z. B. in Risikogruppen oder Gesamtpopulationen untersuchen.
- Pharmakogenetische Tests, welche Informationen über eine genetisch bedingte, individuelle Verträglichkeit von Medikamenten liefern können und anhand derer Unverträglichkeiten gegen bestimmte Substanzen festgestellt werden können, die sowohl von der Umwelt als auch genetisch bedingt sein können
Das deutsche Gendiagnostikgesetz (GenDG)
Nach einer langen und intensiven Diskussion, sowohl in den beteiligten Fachdisziplinen als auch in der Politik, sowie nach mehreren politischen Initiativen hat der Deutsche Bundestag am 24. April 2009 das Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen (Gendiagnostikgesetz - GenDG) verabschiedet, das die Anwendung von prädiktiven Gentests in Deutschland regelt. Das Gendiagnostikgesetz ist am 01. Februar 2010 in Kraft getreten (§ 27 GenDG, alle nachfolgenden Paragraphen ohne Gesetzesangabe beziehen sich auf das GenDG).
Der ausdrückliche Zweck des Gesetzes ist es, die Voraussetzungen für genetische Untersuchungen und im Rahmen genetischer Untersuchungen durchgeführte genetische Analysen sowie die Verwendung genetischer Proben und Daten zu bestimmen und eine Benachteiligung aufgrund genetischer Eigenschaften zu verhindern, um insbesondere die staatliche Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Würde des Menschen und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zu wahren (§ 1).
Der Anwendungsbereich des Gesetzes ist nicht auf prädiktive genetische Untersuchungen beschränkt. Vielmehr werden genetische Untersuchungen, die bei (geborenen) Menschen vorgenommen werden (postnatal) als auch solche, die bei Embryonen und Föten durchgeführt werden (pränatal, dazu speziell § 15) geregelt.
Ein zentraler Regelungsgedanke des Gesetzes besteht darin, dass Benachteiligungen auf Grund von eigenen genetischen Eigenschaften oder einer genetisch verwandten Person, wegen der Vornahme oder Nichtvornahme einer genetischen Untersuchung oder Analyse bei sich oder einer genetisch verwandten Person oder wegen des Ergebnisses einer solchen Untersuchung oder Analyse verboten werden (§ 4 Abs. 1). Außerdem enthält das Gesetz Maßgaben, durch die eine Qualitätssicherung genetischer Analysen gewährleistet werden sollen (§ 5). Insbesondere ist eine Akkreditierung für Einrichtungen vorgeschrieben, die genetische Untersuchungen durchführen.
Für genetische Untersuchungen zu medizinischen Zwecken ist ein Arztvorbehalt vorgeschrieben (§ 7). Für diagnostische Untersuchungen gilt ein einfacher Arztvorbehalt, für prädiktive Untersuchungen ein Facharztvorbehalt. Die informierte Einwilligung der betroffenen Person ist notwendige Voraussetzung für die rechtmäßige Durchführung einer genetischen Untersuchung (§ 8). Vor Einholung der Einwilligung ist die betroffene Person über Wesen, Bedeutung und Tragweite der genetischen Untersuchung aufzuklären (§ 9). Die Durchführung bei einwilligungsunfähigen Personen ist nur unter bestimmten Bedingungen erlaubt (§ 14). Des Weiteren enthält das Gesetz Vorschriften zur genetischen Beratung (§ 10) sowie zur Mitteilung der Ergebnisse von genetischen Untersuchungen (§ 11). Speziell bei prädiktiven Untersuchungen gilt, dass die betroffene Person vor der genetischen Untersuchung und nach Vorliegen des Untersuchungsergebnisses durch eine besonders qualifizierte ärztliche Fachperson genetisch zu beraten ist. Eine Ausnahme zu dieser Regelung ist dann möglich, wenn die Person nach vorheriger schriftlicher Aufklärung über die Beratungsinhalte in schriftlicher Form auf die genetische Beratung durch eine ärztliche Fachkraft verzichtet. Der betroffenen Person ist nach der Beratung eine angemessene Bedenkzeit bis zur Untersuchung einzuräumen (§ 10 Abs. 2).
Die Verwendung von genetischen Untersuchungen im Versicherungsbereich ist restriktiv geregelt. Versichernde dürfen von Versicherten weder vor noch nach Abschluss des Versicherungsvertrages die Vornahme genetischer Untersuchungen oder Analysen verlangen (§ 18 Abs. 1 Nr. 1). Auch die Mitteilung von Ergebnissen oder Daten aus bereits vorgenommenen genetischen Untersuchungen oder Analysen darf von Versichernden weder verlangt werden noch dürfen solche Ergebnisse oder Daten entgegengenommen und verwendet werden (§ 18 Abs. 1 Nr. 2). Dieses grundsätzliche Verbot gilt für Lebensversicherungen, die Berufsunfähigkeitsversicherung, Erwerbsunfähigkeitsversicherungen und Pflegerentenversicherungen allerdings nicht, wenn eine Leistung von mehr als 300.000 EUR oder mehr als 30.000 EUR Jahresrente vereinbart wird.
Auch im Arbeitsleben unterliegt die Verwendung von genetischen Untersuchungen starken Beschränkungen. Insbesondere dürfen Arbeitgebende von Beschäftigten weder vor noch nach Begründung des Beschäftigungsverhältnisses die Vornahme genetischer Untersuchungen oder Analysen verlangen (§ 19 Abs. 1). Ebenso dürfen sie nicht die Mitteilung von Ergebnissen bereits vorgenommener genetischer Untersuchungen oder Analysen verlangen, solche Ergebnisse entgegennehmen oder verwenden (§ 19 Abs. 2). Die Verwendung von genetischen Untersuchungen zum Arbeitsschutz ist eigens geregelt (§ 20).
Schließlich sieht das Gesetz die Einrichtung einer interdisziplinär zusammengesetzten, unabhängigen Gendiagnostik-Kommission (GEKO) vor. Diese wurde beim Robert-Koch-Institut angesiedelt und besteht aus 13 Sachverständigen der Fachrichtungen Medizin und Biologie, zwei Sachverständigen der Fachrichtungen Ethik und Recht sowie drei Vertretenden von Organisationen, die sich für die Wahrnehmung der Interessen von den zu behandelnden Personen, von Verbrauchenden und der Selbsthilfe behinderter Menschen einsetzen. Die Mitglieder und stellvertretenden Mitglieder der Gendiagnostik-Kommission werden vom Bundesministerium für Gesundheit für die Dauer von drei Jahren berufen (§ 23 Abs. 1). Zu den Aufgaben der Gendiagnostik-Kommission gehört es u. a., Richtlinien in Bezug auf den anerkannten Stand der Wissenschaft und Technik für die Anforderung an die Qualifikation zur genetischen Beratung sowie für die Anforderung an die Inhalte von Aufklärung und der genetischen Beratung zu erstellen. Außerdem kann die Gendiagnostik-Kommission auf Anfrage von Personen oder Einrichtungen, die genetische Untersuchungen oder Analysen vornehmen, gutachtliche Stellungnahmen zu Einzelfragen der Auslegung und Anwendung ihrer Richtlinien abgeben (§ 23 Abs. 5). Schließlich bewertet die Gendiagnostik-Kommission in einem Tätigkeitsbericht die Entwicklung in der genetischen Diagnostik. Der Bericht ist im Abstand von drei Jahren zu erstellen und durch das Robert Koch-Institut zu veröffentlichen (§ 23 Abs. 4). Mit dieser Regelung soll gewährleistet werden, dass die Entwicklungen im Bereich der genetischen Diagnostik kontinuierlich beobachtet und bewertet werden.
Deutscher Ethikrat
Der Deutsche Ethikrat (früher Nationaler Ethikrat) hat sich bereits im Jahr 2007 mit dem Thema prädiktive Gentests beschäftigt und in diesem Zusammenhang die „Stellungnahme Prädiktive Gesundheitsinformationen beim Abschluss von Versicherungen” veröffentlicht. Da die Methoden der genetischen Analyse in den letzten Jahren rasant weiterentwickelt und in Folge dessen tiefgreifende gesellschaftliche Fragen aufgeworfen wurden, hat die Bundesregierung den Deutschen Ethikrat dazu aufgefordert, eine weitere, umfangreichere Stellungnahme zur Zukunft der genetischen Diagnostik zu erarbeiten. Um dieser Aufgabe nachzukommen veröffentlichte der Deutsche Ethikrat im April 2013 eine Stellungnahme mit dem Titel „Die Zukunft der genetischen Diagnostik – von der Forschung in die klinische Anwendung”. Der Ethikrat sieht über das 2010 in Kraft getretene Gendiagnostikgesetz hinaus weiteren rechtlichen und gesellschaftlichen Handlungsbedarf und spricht detaillierte Empfehlungen sowohl zur Gendiagnostik allgemein als auch zur Pränataldiagnostik aus. Unter anderem wird empfohlen, im Internet eine öffentliche Informationsplattform zu verfügbaren Gentests, ihrer Bedeutung und Aussagekraft einzurichten und die Vornahme von genetischen Untersuchungen und den Umgang mit den Ergebnissen in ärztliche Aus- und Weiterbildungsordnungen zu integrieren. Darüber hinaus werden konkrete Erweiterungen des GenDG gefordert, die Unklarheiten, u. a. bezüglich der Aufklärung und Beratung, Gentests zu medizinischen Zwecken bei nicht einwilligungsfähigen Personen, dem Neugeborenen-Screening und Gentests zu nicht-medizinischen Zwecken, beseitigen sollen. Um das persönliche Risiko der in Deutschland generell nicht zugelassenen Direct-to-Consumer-Gentests zu senken, fordert der Deutsche Ethikrat eine unabhängige Verbrauchendenaufklärung sowie Regelungen des Verbrauchendenschutzes und die Initiative der Bundesregierung, EU-weite gemeinsame Regelungen zu veranlassen. Im Bereich der Pränataldiagnostik empfiehlt der Ethikrat, die besondere psychische Situation der schwangeren Personen bei der Aufklärung über die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik zu beachten und auch die Option der Nichtinanspruchnahme zu erwähnen. Darüber hinaus soll die Pränataldiagnostik nur an entsprechend spezialisierten Einrichtungen durchgeführt werden dürfen, denn nur dann sei eine angemessene Betreuung möglich, bspw. in Zusammenarbeit mit einer psychosozialen Beratungsstelle.
Prädiktive genetische Tests bergen ein hohes gesundheitsförderndes Potenzial. So ermöglichen sie, die Disposition für eine therapierbare Krankheit frühzeitig zu erkennen. Pharmakogenetische Tests eröffnen darüber hinaus die Option, die genetisch bedingte Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Arzneimittelwirkstoffen zu identifizieren, womit eine individuell abgestimmte Medikamentendosierung und -auswahl möglich wird. Prädiktive genetische Testverfahren sind aber nicht nur mit Chancen, sondern auch mit Risiken verbunden. Für eine ethische Bewertung prädiktiver Gentests ist die Identifizierung dieser Risiken von zentraler Bedeutung. In der ethischen Diskussion um prädiktive Gentests werden vor allem die folgenden Risiken namhaft gemacht.
Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
Genetische Daten können Kernbereiche der Persönlichkeit betreffen. Es darf daher als allgemein anerkannt gelten, dass mit Blick auf die eigene genetische Konstitution jedem Einzelnen sowohl ein „Recht auf Wissen” als auch ein „Recht auf Nichtwissen” zukommt. Beide werden häufig unter dem Begriff der „informationellen Selbstbestimmung” vereint angesprochen. Probleme entstehen dann, wenn das Recht auf Nichtwissen einer Person mit dem Recht auf Wissen einer anderen Person kollidiert, zum Beispiel bei Testbefunden, die auch Aussagen über die genetische Konstitution biologisch Verwandter miteinschließen oder bei der Auswertung personenbezogener genetischer Daten in sogenannten Humanbiobanken zu Forschungszwecken.
Intrafamiliäre Konflikte
Genetische Daten enthalten immer auch Informationen über die biologischen Verwandten einer getesteten Person. Dieser Umstand kann zu besonderen, intrafamiliären Konfliktsituationen führen. Wird eine Person positiv getestet, so kann anhand dieses Testbefundes gleichzeitig eine Aussage über die genetische Konstitution einer biologisch verwandten Person gemacht werden. Wird beispielsweise jemand mit einem an Chorea Huntington erkrankten Großelternteil positiv auf die relevante Genveränderung getestet, so ist sicher, dass auch der entsprechende Elternteil Träger dieser Genveränderung ist. Das Recht auf Wissen der getesteten Personen kann also mit dem Recht auf Nichtwissen eines biologischen Verwandten kollidieren.
Psychische Belastungen durch positive Testbefunde
Wird anhand einer prädiktiven genetischen Untersuchung festgestellt, dass bei einer Person eine Erbkrankheit vorliegt, so kann dies zu erheblichen psychischen Belastungen der betroffenen Person führen. Verstärkt werden können solche Belastungen durch die Komplexität, die mit genetischen Untersuchungsergebnissen einhergeht: Insbesondere wenn eine Erkrankung nur eine geringe Penetranz oder eine stark variable Expressivität aufweist, ist die Frage nach einem angemessenen Vorgehen schwierig. Neue Forschungsergebnisse legen in dieser Hinsicht jedoch nahe, dass die Möglichkeit das eigene Verhalten mithilfe prädiktiver Untersuchungsergebnisse zu verändern von vielen Personen nicht genutzt wird. Auch wenn dies nicht zwingend etwas über den psychischen Status der "betroffenen" Personen aussagt, so sollte die geringe Auswirkung der Testergebnisse dennoch zu bedenken geben, ob das Argument der psychischen Belastung durch positive Testbefunde im Falle prädiktiver Verfahren angemessen ist.
Gefahr einer „Genetisierung” der Lebenswelt
Unter „Genetisierung” versteht man im Allgemeinen einen Prozess, bei welchem Unterschiede zwischen Individuen auf ihre DNA reduziert werden, d. h. Krankheiten und Verhalten werden im Zuge der Genetifizierung zunehmend als genetisch bedingt begriffen. Die Genetisierung stellt dann ein Problem dar, wenn sie in einem genetischen Determinismus endet, welcher besagt, dass der Mensch vollständig durch seine Gene bestimmt ist.
Genetische Diskriminierung
Der Begriff „Diskriminierung” meint eine benachteiligende Behandlung von Personen aufgrund von „für den gegebenen Sachverhalt” irrelevanten Merkmalen. Im Zusammenhang mit prädiktiven Gentests besteht die Gefahr, dass eine positiv getestete Person als „gesunde*r Kranke*r” betrachtet wird, was zu sozialen Nachteilen innerhalb der Gesellschaft führen kann. Obwohl keinerlei Symptome vorliegen, werden Betroffene oft als krank wahrgenommen und dementsprechend auch behandelt. Diese Form der „genetischen Diskriminierung” kann besonders mit Blick auf Versicherungs- und Arbeitsverhältnisse problematisch sein.
Es besteht ein weitreichender Konsens, dass prädiktive genetische Testverfahren aus ethischer Perspektive sowohl mit Chancen als auch mit Risiken verbunden sind. In der ethischen Diskussion geht es daher nicht zuletzt darum, Regelungsmodelle daraufhin zu analysieren, ob sie geeignet sind, die Risiken, die mit prädiktiven genetischen Tests verbunden sind, zu minimieren, ohne zugleich die Chancen, die diese Tests eröffnen, einzuschränken. Vor allem vier idealtypische Regelungsmodelle lassen sich in der Debatte unterscheiden:
Regelungsmodelle
1. Zulassungsverfahren
Das Zulassungsverfahren ist ein Regelungsmodell, welches besagt, dass es angesichts der skizzierten Gefahrenpotentiale notwendig ist, Qualitätsstandards für prädiktive Gentests festzulegen. Die einzelne Person könne ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung nur dann wirklich wahrnehmen und sich für oder gegen eine Untersuchung entscheiden, wenn sichergestellt ist, dass ein Test eine verlässliche Informationsbasis bereitstellt. Zulassungsverfahren könnten nicht nur für Tests selbst in Geltung gesetzt werden, sondern auch für die Labore, die Tests auswerten sowie auch für diejenigen, die Testresultate vermitteln. Es besteht mittlerweile weitgehende Zustimmung, dass Zulassungsverfahren im Zusammenhang mit prädiktiven Gentests sinnvoll sind. Weiterhin diskutiert wird jedoch zum einen, ob das Erfordernis einer Zulassung für alle Tests gelten soll oder nur für solche, deren Ergebnisse schwere psychische Belastungen nach sich ziehen können, zum anderen, ob bzw. wie dieses Modell durch andere Regelungsmodelle ergänzt werden muss.
2. Anti-Diskriminierungsregelungen
Eine Anti-Diskriminierungsregelung als Regelungsmodell für prädiktive Gentests wurde von denjenigen vorgeschlagen, die glauben, dass nicht die Testanwendung selbst im Zentrum einer Regelung stehen soll, sondern vielmehr die Verwendungsweise von genetischen Daten. Nur dann, wenn genetische Unterschiede zur Grundlage von sozialer Ausschließung gemacht werden, so argumentieren Befürwortende dieses Modells, bestehe eine regelungsbedürftige Gefährdungslage. Kritisierende wenden dagegen ein, dass das Konzept der genetischen Diskriminierung schwer abgrenzbar sei und daher nicht zur Basis einer Regelung erhoben werden sollte. Zudem würden durch ein solches Modell nicht alle Gefahren, die mit Gentests verbunden sind, eingefangen.
3. Arztvorbehalt
Ein weiteres Regelungsmodell, der Arztvorbehalt sieht vor, dass alle oder zumindest einige prädiktive Gentests nur von ärztlichen Fachpersonen oder womöglich sogar nur von ärztlichem Fachpersonal für Humangenetik durchgeführt werden dürfen. Die Befürwortenden dieses Modells wollen der Kommerzialisierung von Gentests, beispielsweise der Vermarktung von Direct-to-consumer-Gentests und den damit verbundenen Folgen entgegenwirken. Sie weisen darauf hin, dass nur durch die Kompetenz der ärztlichen Fachkraft gewährleistet werden könne, dass eine angemessene Beratung vor einem möglichen Test erfolge und die Testbefunde richtig interpretiert würden. Die ärztliche Schweigepflicht gewährleiste außerdem, dass genetische Daten nicht weitergetragen würden – der Datenschutz könne also durch den Arztvorbehalt gesichert werden.
Probleme entstehen jedoch dann, wenn es um die Durchführung nicht krankheitsrelevanter Tests geht. Wenn für diese Art von genetischer Untersuchung ärztliche Fachpersonen zwangsweise hinzugezogen werden müssten, so würde diesen die lebensberatende Tätigkeiten ausführen, was eigentlich nicht ihre Aufgabe sein sollte.
4. Bindung an Gesundheitszwecke
Ein vieldiskutiertes Regelungsmodell, die Bindung an Gesundheitszwecke enthält das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des Europarates. Artikel 12 besagt:
„Untersuchungen, die es ermöglichen, genetisch bedingte Krankheiten vorherzusagen oder bei einer Person entweder das Vorhandensein eines für eine Krankheit verantwortlichen Gens festzustellen oder eine genetische Prädisposition oder Anfälligkeit für eine Krankheit zu erkennen, dürfen nur für Gesundheitszwecke oder für gesundheitsbezogene wissenschaftliche Forschung und nur unter der Voraussetzung einer angemessenen genetischen Beratung vorgenommen werden.”
Durch diese Beschränkung von Gentests auf Gesundheitszwecke versucht der Europarat ungerechtfertigte Interessen Dritter an genetischen Daten, wie sie beispielsweise Arbeitgebende oder Versichernde haben können, abzuwehren. So könne nur ein direkter medizinischer Nutzen als Rechtfertigung für die Durchführung einer prädiktiven genetischen Untersuchung herangezogen werden. Kritisierende bezweifeln allerdings, dass der Begriff der Gesundheitszwecke sich hinreichend präzise fassen lasse. Ist dies nicht der Fall, dann droht ein solcher Regelungsansatz konturlos zu werden.