Verfahrenszyklus VG Berlin - BVerfG
Die Frage, ob die Genehmigungsbehörden zu einer autonomen Einschätzung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen befugt seien, wurde 1994 vor dem Verwaltungsgericht Berlin (VG Berlin) und dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verhandelt.
1. VG Berlin 1. Kammer, Beschluss vom 20. April 1994, Az: 1 A 232.92. Abgedruckt in: Natur und Recht 1994, 507-511.
Ein Forscher, der an der freien Universität Berlin neurophysiologische Grundlagenforschung betrieb, hatte die Genehmigung zweier Tierversuchsreihen beantragt. Die entsprechenden Versuche sollten an lebenden Affen (u.a. Totenkopfaffen und Java-Makaken) durchgeführt werden. Die zuständige Genehmigungsbehörde hatte beide Anträge (am 23. Juni 1992) abgewiesen, obwohl sie in der Vergangenheit (03. März 1988 und 17. September 1990) ähnliche Versuche des Forschers genehmigt hatte. Als Grund für den negativen Bescheid wurde angegeben, die beantragten Tierversuche seien für den verfolgten Versuchszweck zwar unerlässlich, jedoch ethisch nicht vertretbar.
Der Forscher klagte daraufhin vor dem VG Berlin. Das Verwaltungsgericht entschied, das Verfahren zunächst auszusetzen und eine Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht einzuholen, ob § 7 Abs. 3 TierSchG (Prüfung der ethischen Vertretbarkeit durch die Genehmigungsbehörde) verfassungswidrig sei (Normenkontrollverfahren). Das Verwaltungsgericht selbst war dieser Auffassung und führte aus, § 7 Abs. 3 TierSchG verstoße gegen Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG (Grundrecht auf Forschungsfreiheit). Als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht könne Forschungsfreiheit nur durch andere, kollidierende Verfassungswerte eingeschränkt werden; ein Verfassungsrang des Tierschutzes bestehe aber nicht und so sei die Einschränkung der Forschungsfreiheit durch die Vorschriften des Tierschutzgesetzes verfassungswidrig.
2. BVerfG 1. Senat 1. Kammer, Kammerbeschluss vom 20. Juni 1994, Az: 1 BvL 12/94. Abgedruckt in: Natur und Recht 1995, 135-137.
Das Bundesverfassungsgericht war nun dazu aufgerufen, zu entscheiden, ob die Vorschriften des Tierschutzgesetzes zur Überprüfung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen verfassungswidrig seien. Es wies die Vorlage des VG Berlin jedoch als unzulässig ab. Zum einen wies das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass das VG Berlin möglicherweise unabhängig von der Klärung der Frage, ob § 7 Abs. 3 TierSchG verfassungswidrig sei, entscheiden könne:
Falls die beantragten Versuche, entgegen der Auffassung der Genehmigungsbehörde, ethisch vertretbar seien, müsse über die Verfassungskonformität der Gesetzesnorm nicht entschieden werden. Eine Vorlage beim BVerfG sei hingegen nach § 100 Abs. 1 Satz 1 GG (Normenkontrollverfahren) nur dann vorgesehen, wenn die Klärung, ob eine Gesetzesnorm verfassungswidrig sei, unerlässlich für die Entscheidungsfindung des vorlegenden Gerichts sei. Eine Vorlage beim BVerfG erübrige sich zudem dann, wenn die Nichtigerklärung einer Norm durch deren verfassungskonforme Auslegung vermieden werden könne.
Bezogen auf § 7 Abs. 3 würde eine verfassungskonforme Auslegung so aussehen, dass der Wissenschaftler zwar die ethische Vertretbarkeit seiner geplanten Tierversuche wissenschaftlich begründet darlegen müsse, die Behörden jedoch kein materielles Prüfungsrecht besäßen, also nicht darüber entschieden, ob die Darlegung des Forschers tatsächlich zutreffe. In diesem Sinne wäre die Aufgabe der Behörde nur eine qualifizierte Plausibilitätskontrolle und die Forschungsfreiheit würde nicht in verfassungswidriger Weise eingeschränkt.
3. VG Berlin 1. Kammer, Beschluss vom 7. Dezember 1994, Az: 1 A 232.92. (Abgedruckt in: Zeitschrift für Umweltrecht 1995, 201-203.)
Das VG Berlin gab daraufhin der Klage des Forschers statt und legte dar, dass die Aufgabe der Genehmigungsbehörde in einer qualifizierten Plausibilitätskontrolle bestehe: Die Genehmigung zur Durchführung eines Tierexperiments sei dann zu erteilen, wenn der Antragsteller wissenschaftlich begründet dargelegt habe, dass der Versuch unerlässlich und ethisch vertretbar sei. Es sei hingegen nicht die Aufgabe der Genehmigungsbehörde, darüber hinaus zu beurteilen, ob der Versuch tatsächlich ethisch vertretbar sei. Da der Forscher im vorliegenden Fall die ethische Vertretbarkeit der geplanten Versuchsreihe hinreichend dargelegt habe, sei seine Klage gegen die Genehmigungsbehörde erfolgreich. Dem Forscher wurde die Genehmigung zur Durchführung der Tierversuche erteilt.