Chimärenbildung

Besondere Kontroversen löst die künstliche Chimären- bzw. Hybridbildung bei einer Vermischung der menschlichen mit einer anderen Spezies aus. Etwa bezüglich derjenigen Embryonen, die durch Einbringung eines menschlichen Zellkerns in die zuvor entkernte Eizelle eines Tieres entstehen könnten und bezüglich derjenigen tierischen Embryonen, innerhalb derer sich menschliche Stammzellen weiterentwickeln sollen. Im Fall der entkernten tierischen Eizelle enthält der erzeugte Embryo eine minimale Zahl tierischer Zellen, im Fall der genetisch veränderten tierischen Embryonen mit eingeführten menschlichen Stammzellen enthält der erzeugte Embryo eine geringe Anzahl menschlicher Zellen.  

Von der Vermischung der Zellen über Artgrenzen hinweg in Embryonen erhofft man sich langfristig die Möglichkeit zur Herstellung von Transplantationsorganen und eine verbesserte Kultivierung und Differenzierung von Stammzellen in der Humanmedizin. Insbesondere das Differenzieren von menschlichen Stammzellen in unterschiedliche Zelltypen gelingt bisher nur zum Teil außerhalb des Embryos, d. h. unter Laborbedingungen. Das Einbringen menschlicher iPS-Zellen in tierische Embryonen verspricht daher möglicherweise eine verbesserte Entwicklung patientenspezifischer differenzierter Stammzellen in vivo und längerfristig die Herstellung patientenspezifischer Transplantationsorgane. Neben diesen Hauptanliegen der Forschung zu sog. Mensch-Tier-Hybriden und -Chimären erhofft man sich auch ein tiefer gehendes Verständnis grundlegender menschlicher Entwicklungsabläufe, etwa der Embryogenese, und das Vermeiden des ‚Verbrauchs’ menschlicher Eizellen.

Gegenwärtig sind die auf diese Ziele gerichteten Verfahren experimentell. Dies liegt u. a. in der Schwierigkeit, eine „Wirtsart” zu finden, in der sich menschliche Stammzellen in ausreichender Menge und ähnlicher Schnelligkeit entwickeln. Im Januar 2017 konnten Juan Carlos Izpisúa Belmonte und sein Team zeigen, dass sich nach einer Injektion von menschlichen iPS-Zellen in Schweine-Embryonen im Verlauf der ersten vier Wochen der Embryonalentwicklung vereinzelt Vorläuferzellen von menschlichen Organen wie z. B. Leber- und Herzzellen ausbildeten. Die Entwicklung der Chimären-Embryonen wurde aus ethischen Gründen vier Wochen nach dem Einbringen in den Uterus abgebrochen. 

Ergänzend veröffentlichte ebenfalls im Januar 2017 ein Forschungsteam um Hiromitsu Nakauchi Ergebnisse aus einer Studie, in der Maus-Bauchspeicheldrüsen in Rattenembryonen erzeugt werden konnten. Dazu wurden murine Stammzellen in Ratten-Embryonen injiziert. Zusätzlich war zuvor in den Rattenembryonen die genetische Sequenz, die für die Ausbildung der Bauchspeicheldrüse zuständig ist, mittels der Genschere CRISPR-Cas9 ‚deaktiviert’ worden. Infolgedessen entwickelten sich in den Rattenembryonen, die schließlich zu lebensfähigen Ratten wurden, Bauchspeicheldrüsen der Maus. Nach einer Transplantation von Gewebe der Bauchspeicheldrüsen in Mäuse, die zuvor mit Diabetes induziert wurden, konnten therapeutische Erfolge durch eine wiedererlangte Fähigkeit zur Herstellung von Insulin nachgewiesen werden. 

Im Anschluss an die Ankündigung des Forschungsteams um Hiromitsu Nakauchi im Sommer 2019, die mit menschlichen iPS-Zellen ergänzten tierischen Embryonen schrittweise weiter als bisher über den 14. Tag hinaus zu entwickeln, zunächst jedoch nicht bis zur Geburt hin austragen zu lassen, wurde die Debatte zu den ethischen Implikationen neu entfacht. Der Ankündigung ging die Liberalisierung der japanischen Regulierung zuvor, die das Austragen der sog. Chimären zulässt. Kurz danach äußerte der spanische Stammzellforscher Juan Carlos Izpisúa Belmonte, ähnliche Versuche an Primaten-Embryonen (Makaken) mit menschlichen Stammzellen durchgeführt zu haben. Makaken sind genetisch enger mit Menschen verwandt, sodass man sich eine bessere Entwicklung der Stammzellen erhofft, zugleich aber die nicht beabsichtigte Beteiligung menschlicher Zellen in anderen Bereichen der Entwicklung des Embryos wahrscheinlicher sein könnte. Ethische Bedenken richten sich vor allem auf das mögliche ‚Abwandern‘ der menschlichen Stammzellen innerhalb der tierischen Embryonen und eine daraus folgende Ausbildung ‚menschlicher‘ Merkmale beispielsweise im Hinblick auf das Nervensystem in den so geschaffenen Individuen.

Für die Versuche mit menschlichen Stammzellen und Schweineembryonen des Forschungsteams um Juan Carlos Izpisúa Belmonte siehe:

Wu, J. / Platero-Luengo, A. / Sakurai, M. / Sugawara, A. / Gil, M. A. / Yamauchi, T. / Suzuki, K. / Bogliotti, Y. S. / Cuello, C. / Valencia, M. M. / Okumura, D. / Luo, J. / Vilarino, M. / Parrilla, I. / Soto, D. A. / Martinez, C. A. / Hishida, T. / Sánchez-Bautista, S. / Martinez-Martinez, M. L. / Wang, H. / Nohalez, A. / Aizawa, E. / Martinez-Redondo, P. / Ocampo, A. / Reddy, P. / Roca, J. / Maga, E. A. / Esteban, C. R. / Berggren, T. W. / Delicado, E. N. / Lajara, J. / Guillen, I. / Guillen, P. / Campistol, J. M. / Martinez, E. A. / Ross, P. J. / Izpisúa Belmonte, J. C. (2017): Interspecies Chimerism with Mammalian Pluripotent Stem Cells. In: Cell 168, 473–486. doi: 10.1016/j.cell.2016.12.036. Online Version (Englisch)

Für die Versuche mit murinen Stammzellen und Rattenembryonen des Teams um Hiromitsu Nakauchi siehe:

Yamaguchi, T. / Sato, H. / Kato-Itoh, M. / Goto, T. / Hara, H. / Sanbo, M. / Mizuno, N. / Kobayashi, T. / Yanagida, A. / Umino, A. / Ota, Y. / Hamanaka, S. / Masaki, H. / Rashid, S. T. / Hirabayashi, M. / Nakauchi, H. (2017): Interspecies organogenesis generates autologous functional islets. In: Nature 542, 191–196. doi: 10.1038/nature21070 Online Version (Englisch)

Für das Forschungsvorhaben von Nakauchi an "Mensch-Tier-Embryonen" siehe:

Cyranoski, D. (2019): Japan approves first human-animal embryo experiments. In: Nature [online veröffentlicht am 26 Juli 2019]. doi: 10.1038/d41586-019-02275-3 Online Version (Englisch)

Für die Versuche mit menschlichen Stammzellen und Primatenembryonen des Forschungsteams um Juan Carlos Izpisúa Belmonte siehe:

Tan, T. / Wu, J. / Si, C. / Dai, S. / Zhang, Y. / Sun, N. / Zhang, E. / Shao, H. / Si, W. / Yang, P. / Wang, H. / Chen, Z. / Zhu, R. / Kang, Y. / Hernandez-Benitez, R. / Martinez Martinez, L. / Nuñez Delicado, E. / Berggren, W. T. / Schwarz, M. / Ai, Z. / Li, T. / Deng, H. / Esteban, C. R. / Ji, W. / Niu, Y. / Izpisúa Belmonte, J. C. (2021): Chimeric contribution of human extended pluripotent stem cells to monkey embryos ex vivo. In: Cell 184 (8), 2020–2032.e14. doi:10.1016/j.cell.2021.03.020. Online Version (Englisch)

Für weitergehende Informationen über den Stand der Forschung, Möglichkeiten und Grenzen der Chimärenbildung vgl.: 

De Los Angeles, A. / Pho, N. / Redmond, E. D. (2018): Generating Human Organs via Interspecies Chimera Formation: Advances and Barriers. In: The Yale Journal of Biology and Medicine 91(3), 333–342. Online Version (Englisch)

Garry, D. J. / Garry, M. G. (2021): Interspecies chimeras as a platform for exogenic organ production and transplantation. In: Experimental Biology and Medicine 246(16), 1838–1844. Online Version (Englisch)

Wu, J. / Greely, H. T. / Jaenisch, R.  / Nakauchi, H. / Rossant, J. / Izpisúa Belmonte, J. C. (2016): Stem cells and interspecies chimaeras. In: Nature 540(7631), 51–59. doi: 10.1038/nature20573 Online Version (Englisch)

Zur ethischen Analyse der sog. Chimären-Versuche siehe z. B.:

Camporesi, S. / Boniolo, G. (2008): Fearing a non-existing Minotaur? The ethical challenges of research on cytoplasmic hybrid embryos. In: Journal of Medical Ethics 34, 821–825. doi:10.1136/jme.2008.024877 Online Version (Englisch)

Mann, S. P. / Sun, Rosa / Hermerén, G. (2019): Ethical Considerations in Crossing the Xenobarrier. In: Hyun, I. / De los Angeles, A. (Hrsg.): Chimera Research. Methods in Molecular Biology. New York: Humana Press, 175–193. doi: 10.1007/978-1-4939-9524-0_12

Deutscher Ethikrat (2011): Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung. Stellungnahme. Online Version

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