Hirntodkriterium

Einer potenziell organspendenden Person dürfen Organe erst dann entnommen werden, wenn der Tod endgültig festgestellt wurde. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts galt vorwiegend der Stillstand von Atmung und Herzschlag als Todeskriterium (Herztod). Personen mit einem Herz-Kreislauf-Stillstand können, mit Hilfe der heute verfügbaren intensivmedizinischen Maßnahmen, allerdings teilweise wiederbelebt werden und genesen. Gefordert wurde deshalb ein weiteres Kriterium zur Feststellung des Todes. Mit der Suche nach einem solchen Kriterium hat sich vor allem das Komitee der Harvard Medical School beschäftigt. Das Ergebnis dieser Arbeit wurde 1968 im so genannten „Harvard-Bericht“ veröffentlicht. Die Bundesärztekammer (BÄK) definiert den Hirntod folgendermaßen: "Mit der Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms (irreversibler Hirnfunktionsausfall) ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt." Die Hirnfunktionen sind unwiederbringlich verloren, wenn das Gehirn für wenige Minuten (max. 10 Minuten) ohne Blut- und Sauerstoffversorgung bleibt. Trotz künstlicher Beatmung und aufrechterhaltener Herztätigkeit ist das Gehirn dann von der Durchblutung abgekoppelt, seine Zellen zerfallen, auch wenn der übrige Körper noch künstlich durchblutet wird. Es besteht deshalb die Möglichkeit, der hirntoten Person noch intakte Organe zu Transplantationszwecken zu entnehmen. Für die Feststellung des Hirntodes hat die BÄK Richtlinien formuliert. Diese legen fest, dass zwei ärztliche Fachpersonen, die nicht zum Transplantationsteam gehören und mehrjährige Erfahrung in der Intensivmedizin oder Neurologie haben, den Hirntod unabhängig voneinander und zweifelsfrei diagnostizieren müssen. Ferner muss in einer klinischen Untersuchung nachgewiesen werden, dass alle Hirnstammreflexe und die Spontanatmung ausgefallen sind. Die Hirnstammreflexe sind bei bewusstlosen Personen auslösbar, bei hirntoten jedoch nicht. Zu diesen Reflexen zählen:

  • Pupillenreflex: Bei Gesunden sind normalerweise beide Pupillen gleich weit. Sie verengen sich bei Lichteinfall. Bei hirntoten Personen fehlt dieser Reflex, die Pupillen reagieren nicht mehr auf Lichteinfall.
  • Puppenkopf-Phänomen (okulozephaler Reflex): Ist eine Person bewusstlos, aber nicht hirntot, reagiert sie auf das schnelle Drehen oder Kippen ihres Kopfes mit einer langsamen Gegenbewegung der Augen. Bei einer hirntoten Person bleiben die Augen während dieses Tests ohne Reaktion in ihrer Ausgangsstellung.
  • Hornhautreflex: Berührt man die äußerste Augenschicht (Hornhaut) des Auges mit einem Fremdkörper, schließen sich die Augen reflektorisch. Prüft eine ärztliche Fachkraft diese Reaktion bei einer hirntoten Person mit einem Wattestäbchen, erfolgt keine Reaktion.
  • Schmerzreaktionen im Gesicht: Auf Schmerzreize im Gesicht reagieren selbst Personen, die im tiefen Koma liegen, mit erkennbaren Muskelzuckungen und Abwehrreaktionen der Kopf- und Halsmuskulatur. Bei Hirntoten bleiben diese Reflexe aus.
  • Würge- und Hustenreflex (Tracheal- und Pharyngealreflex): Berührungen der hinteren Rachenwand lösen bei Gesunden und Bewusstlosen einen Würgereflex aus. Hirntote zeigen diese Reaktion nicht.

Deuten alle fünf Reflexprüfungen auf einen Hirntod hin, wird die Spontanatmung überprüft. Das unbewusst ablaufende Atmen ist ein lebenswichtiger Reflex. Wird die maschinelle Beatmung ausgestellt, steigt durch den Verbrauch des Sauerstoffs der Kohlendioxidgehalt im Blut. Dadurch wird sofort das Atemzentrum im Gehirn aktiviert, das einen Atemzug auslöst. Setzt die Eigenatmung nicht ein, liegt ein kompletter Ausfall des Atemzentrums vor.  

Als letzter Schritt ist die Irreversibilität der Hirnschädigung festzustellen. Apparative Diagnostik ist dafür nur bei Kindern bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr sowie bei primärer Schädigung in der hinteren Schädelgrube zwingend vorgeschrieben. Andernfalls reicht eine Beobachtungszeit von mindestens 12 bzw. mindestens 72 Stunden (je nach Art der Hirnschädigung). 

Untersuchungen zeigen, dass die Diagnose des Hirntodes im internationalen Vergleich unterschiedlich gehandhabt wird. Während in vielen Staaten (wie in Norwegen, Luxemburg, Frankreich, den Niederlanden, Mexiko und Argentinien) apparative Zusatzdiagnostik grundsätzlich vorgeschrieben ist, gilt das in Deutschland nur in den genannten Spezialfällen. Auch bezüglich der Grenzwerte für die diagnostischen Tests gibt es Unterschiede. 

Bereits unmittelbar nach Erscheinen des Harvard-Berichts haben sich kritische Stimmen gegen die Einführung des Hirntodkriteriums bzw. die Begleitumstände erhoben. Ihren Höhepunkt erreichte die Hirntod-Debatte in Deutschland vor der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes im Jahr 1997.

Bundesärztekammer (2022): Richtlinie zur Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls (5. Fortschreibung). Online Version

Harvard-Bericht zum Hirntodkriterium (1968): A Definition of Irreversible Coma. Report of the Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death. In: Journal of the American Medical Association 205 (6), 337–340. doi: 10.1001/jama.1968.03140320031009. Online Version (Englisch)

The President's Council on Bioethics (Hg.) (2008): Controversies in the Determination of Death. A White Paper by the President's Council on Bioethics. Washington DC. Online Version (Englisch)

Beckmann, J. P. / Kirste, G. / Schreiber, H.-L. (Hg.) (2008): Organtransplantation. Ethik in den Biowissenschaften – Sachstandsberichte des DRZE, Bd. 7. Freiburg i.B.: Alber. 

Deutscher Ethikrat (2015): Stellungnahme "Hirntod und Entscheidung zur Organspende". Online Version

Kröll, W. (2014): Hirntod und Organtransplantation. Medizinische, ethische und rechtliche Betrachtungen. Baden-Baden: Nomos.

Feinendegen, N. / Höver, G. (Hg.) (2013): Der Hirntod – Ein "zweites" Fenster auf den Tod des Menschen? Zum Neuansatz in der Debatte um das neurologische Kriterium durch den US-Bioethikrat. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Honnefelder, L. (1998): Hirntod und Todesverständnis: Das Todeskriterium als anthropologisches und ethisches Problem. In: Honnefelder, L. / Streffer, C. (Hg.): Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 3. Berlin: De Gruyter, 65-78.

Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages (2019): Zur Feststellung des Todes als Voraussetzung für die „postmortale“ Organspende in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Online Version

Stoecker, R. (2020): Hirntod – philosophisch. In: Wittwer, H. / Schäfer, D. / Frewer, A. (Hg.): Handbuch Sterben und Tod. Stuttgart: J.B. Metzler, 124–129. Online Version

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