Selbstbestimmung, Fürsorge und rechtfertigender Notstand
Liegt ein rechtfertigender Notstand vor (§ 34 StGB; §§ 630d,e BGB), in dem zugunsten von ‚Leib‘ oder ‚Leben‘ einer demenziell erkrankten Person ein medizinischer Eingriff durchgeführt werden muss und ist zugleich nicht die Möglichkeit gegeben, eine etwaige Patientenverfügung einzusehen oder etwaige Betreuende bzw. Bevollmächtige zu befragen, darf dieser auch ohne Einwilligung durchgeführt werden. Dies schließt neben Zwangsbehandlungen auch Maßnahmen wie die Fixierung oder die Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung ein (§ 1906 BGB; §§ 312 ff. FamFG). Bei der Unterbringung der Betroffenen ist in der Regel die (nachträgliche) Genehmigung durch das Betreuungsgericht erforderlich.
Weiterhin prüft ein Betreuungsgericht i.d.R. Entscheidungen der Betreuungspersonen bzw. Bevollmächtigten zur Durchführung bzw. Unterlassung ärztlicher Maßnahmen, die zum Tod der Betreuten oder zu schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schäden führen können (§ 1904 BGB) sowie zu freiheitsentziehenden Maßnahmen (§ 1906 BGB) und sog. ärztlichen Zwangsbehandlungen (§ 1906a BGB).
Eine solche zusätzliche Prüfung durch ein Betreuungsgericht entfällt, wenn aus einer vorliegenden Patientenverfügung der zu betreuenden Personen hervorgeht, dass die Durchführung bzw. Unterlassung der Maßnahme dem Willen der Person entspricht. Dies schließt, soweit die Patientenverfügung entsprechende Äußerungen enthält, auch die Durchführung bzw. Unterlassung von Maßnahmen ein, die die betreute, bereits einwilligungsunfähige Person verweigert. Meist treten diese Konstellationen im Kontext von freiheitsentziehenden Maßnahmen wie der Fixierung mit Bettgurten oder ärztlichen Behandlungen auf, der sich die Personen zu entziehen versuchen. Um sicherzustellen, dass es sich dabei um Handlungen zum Wohl der Person handelt und davon auszugehen ist, dass die Ablehnung krankheitsbedingt erfolgt, enthalten §§ 1906 und 1906a ergänzende Bestimmungen, die erfüllt sein müssen, um derartige Maßnahmen zu ergreifen.
Siehe für die einschlägigen gesetzlichen Regelungen:
Bundesministerium der Justiz. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis. Online Version
Bundesministerium der Justiz. Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) Online Version
Bundesministerium der Justiz. Strafgesetzbuch (StGB). Online Version
Allgemeine Informationen stellt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in seinem Informationsportal „Wegweiser Demenz“ zur Verfügung:
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2024): Wegweiser Demenz. Rechtliches. Rechte und Pflichten Online Version
Weiterführend zu Problematik freiheitsentziehender Maßnahmen, ärztlicher Zwangsbehandlungen und konträrer natürlicher Willensäußerungen:
Gertz, H.-J. (2018): Rechtlicher Rahmen: Einwilligungsfähigkeit und ihre Substitute, Fahrtauglichkeit. In: Jessen, Frank (Hg.): Handbuch Alzheimer-Krankheit. Grundlagen – Diagnostik – Therapie – Versorgung – Prävention. Berlin, Boston: De Gruyter, 174-186, insbesondere 180f.
Raack, W. / Thar, J. (2022): Leitfaden Betreuungsrecht für Betreuer, Vorsorgebevollmächtigte, Angehörige, Betroffene, Ärzte und Pflegekräfte. 8. Aufl. Köln: Bundesanzeiger.
Stechl, E. / Knüvener, C. / Lämmler, G. / Steinhagen-Thiessen, E. / Brasse, G. (2012): Praxishandbuch Demenz. Erkennen – Verstehen – Behandeln. Frankfurt a.M.: Mabuse, 271f.
Siehe für eine ethische Betrachtung des Spannungsfeldes von Selbstbestimmung und Fürsorge:
Rippe, K.-P. (2018): Alzheimer-Erkrankungen, Autonomie und zwei Paradigmen der Pflegeethik. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 66(1), 75-86. doi: https://doi.org/10.1515/dzph-2018-0007 Online Version
Deutscher Ethikrat (2012): Demenz und Selbstbestimmung. Stellungnahme, insbesondere 68 f. Online Version
Deutscher Ethikrat (2018): Hilfe durch Zwang? Professionelle Sorgebeziehungen im Spannungsfeld von Wohl und Selbstbestimmung, 172 ff. Online Version
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) (2014): Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung psychisch erkrankter Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGPPN. In: Der Nervenarzt 11. doi: 10.1007/s00115-014-4202-8 Online Version
Knell, S. (2022): Demenz: Ethische Aspekte. In: Sturma, D. / Lanzerath, D. (Hg.): Demenz. Naturwissenschaftliche, rechtliche und ethische Aspekte. Baden-Baden: Verlag Karl Alber, 143-148. Online Version