Kontroverse um den Authentizitätsbegriff
Überlegungen zu den möglichen Wirkungen von Enhancement-Verfahren auf die Authentizität ihrer Anwendenden wurden maßgeblich angeregt durch Peter Kramers 1993 erschienenes Buch „Listening to Prozac. A Psychiatrist Explores Antidepressant Drugs and the Remaking of the Self“ (dt.: „Glück auf Rezept. Der unheimliche Erfolg der Glückspille Fluctin“). Der amerikanische Psychiater schildert darin seine Erfahrungen mit der Verschreibung von Antidepressiva an Personen, die sich bei ihm in Behandlung begeben hatten, obwohl sie nicht im klinischen Sinn depressiv waren. Ermutigt wurde er zu diesen Versuchen durch das günstig erscheinende Nebenwirkungsprofil des Psychopharmakons „Prozac“ (deutscher Handelsname „Fluctin“), das 1987 als erstes Antidepressivum der neuen Klasse der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer in den USA zugelassen worden war. Unter dem Einfluss von Prozac berichteten die von Kramer untersuchten Personen über unterschiedliche Veränderungen. Viele äußerten jedoch den Eindruck, sich dank des Medikamentes erstmals wirklich wie sie selbst zu fühlen. Diese Erfahrungen werden als Beleg dafür herangezogen, dass pharmakologisches Neuroenhancement das Authentizitätsempfinden der Anwendenden unter Umständen zu steigern vermag.
Kramer, P. (1993): Listening to Prozac. A Psychiatrist Explores Antidepressant Drugs and the Remaking of the Self. New York: Penguin.
Deutsche Übersetzung:
Kramer, P. (1995): Glück auf Rezept. Der unheimliche Erfolg der Glückspille Fluctin. Köln: Kösel.
Demgegenüber hat vor allem der amerikanische Bioethiker Carl Elliott in seinen Publikationen die Möglichkeit hervorgehoben, dass Neuroenhancement die Authentizität der Anwendenden untergraben könnte:
Elliott, C. (2004): Better than Well: American Medicine Meets the American Dream. New York: Norton.
Die unterschiedlichen Bedeutungen des Authentizitätsbegriffs, die hinter den gegenläufigen Bezugnahmen der Kritisierenden und der Befürwortenden des Enhancements stehen, analysiert Erik Parens in dem Aufsatz:
Parens, E. (2005): Authenticity and Ambivalence. Toward Understanding the Enhancement Debate. In: Hastings Center Report 35 (3), 34–41. doi: 10.2307/3528804.
Für einen ersten Überblick über die philosophische Frage nach dem Zusammenhang zwischen Enhancement und Authentizität vgl.:
Juengst, E. / Moseley, D. (2019): Human Enhancement. In: Zalta, E. N. (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Summer 2019 Edition. Online Version (Englisch) (siehe insbes. Kapitel 4.)
Weitere Betrachtungen bezüglich des Zusammenhangs zwischen der individuellen Authentizität und Neuroenhancement lassen sich in den folgenden Aufsätzen finden:
Trachsel, M. / Porz, R. / Laederach, K. (2012): Mood-Enhancement mittels Antidepressiva. Ethische Fragen zu Authentizität und Gerechtigkeit. Bioetica Forum 5 (4), 156–161. doi:10.5167/uzh-70761. Online Version
Honnefelder, L. (2009): Die ethische Dimension moderner Hirnforschung. In: Deutscher Ethikrat (Hg.): Der steuerbare Mensch? Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn. Vorträge der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009. 83–95. Online Version
Van den Daele, W. (2009): Thesen zur ethischen Debatte um das Neuro-Enhancement. In: Deutscher Ethikrat (Hg.): Der steuerbare Mensch? Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn. Vorträge der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009. 107–114. Online Version