Kontroverse um den Krankheitsbegriff
In der Rede über Krankheiten sind empirische Befunde und normative Urteile untrennbar miteinander verwoben. Die Bestimmung dessen, welche Zustände und Prozesse als krankhaft bezeichnet werden können, unterliegen Werturteilen. Nosologische Theorien (Nosologie = Krankheitslehre) unterscheiden sich unter anderem bezüglich der Bedeutung, die entweder dem empirischen oder aber dem normativen Anteil innerhalb der Rede über Krankheiten beigemessen wird. In der Regel wird zwischen naturalistischen bzw. objektivistischen Theorien einerseits und normativistischen bzw. konstruktivistischen Theorien andererseits unterschieden. Während sich Bewertungen des Gesundheitszustandes nach naturalistischen Theorien zwangsläufig aus der wissenschaftlichen Beschreibung von Normabweichungen von messbaren körperlichen Funktionsleistungen ergeben würden, betonen normativistische Theorien den historischen und kulturellen Bedeutungswandel des Begriffs der Normalität, dem unser gängiges Krankheitsverständnis unterworfen sei. Die Frage, welche Struktur-, Funktions- oder Verhaltensvarianten als „normal“ zu betrachten seien, lasse sich ganz unterschiedlich beantworten. Noch stärker kämen die in einem gegebenen soziokulturellen Umfeld leitenden Wertvorstellungen bei der Folgefrage zum Tragen, welche Abweichungen von der Norm nachteilig genug sind, um als krankhaft gelten zu können.
Naturalistische Krankheitskonzepte können unter Rückgriff auf übergeordnete Funktionen des Gesamtorganismus biologisch fundiert werden und sind demnach besonders in Bezug auf rein physiologische Untersuchungen plausibel. Im Gegensatz dazu entfalten normativistische Krankheitstheorien ihre Plausibilität besonders in der Psychiatrie, in deren Geschichte es zahlreiche Beispiele dafür gibt, dass psychische Krankheitsbilder gewissen „Modediagnosen“ unterliegen können, wie etwa der Hysterie zu Sigmund Freuds Zeiten oder aktuell der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder dem Burnout-Syndrom.
Während gemäß der naturalistischen Sichtweise am Anfang der Etablierung eines Krankheitsbilds die Beobachtung einer biologischen Normabweichung stehe, der anschließend ein Krankheitswert beigemessen werde, verhalte es sich gemäß normativistischer Ansichten tatsächlich umgekehrt: Weil ein Verhalten oder eine Eigenschaft im Konflikt mit derzeit anerkannten sozialen oder moralischen Normen stehe, werde eine zugrundeliegende Krankheit postuliert, für die dann im zweiten Schritt biologische Ursachen gesucht würden. Beispielsweise werde Adipositas (Fettsucht, krankhaftes Übergewicht) als Krankheit anerkannt, weil Gefräßigkeit und Fettleibigkeit im Widerspruch zu vorherrschenden Schönheitsidealen, einem ausgeprägten Körper- und Gesundheitskult sowie einer verbreiteten Wertschätzung von Mäßigung und Verzicht stehe. Selbstverständlich können genetische und andere biologische Risikofaktoren für Adipositas identifiziert werden, die für sich genommen jedoch nie die Einführung einer Krankheit rechtfertigen würden und die diese schon gar nicht in dem Sinne verursachten, wie etwa Malaria von Parasiten der Gattung Plasmodium hervorgerufen werde. In der gleichen Weise ließen sich etwa auch genetische und andere Dispositionen für Homosexualität angeben, deren Behandlung als psychische Erkrankung bis in die 1970er Jahre noch sehr verbreitet war. Das Beispiel der Homosexualität erscheint den Vertretenden eines normativistischen Ansatzes besonders geeignet, die von manchen naturalistischen Stimmen vertretenen evolutionären Erklärungsmuster ad absurdum zu führen. Werde nämlich mit dem Kriterium des Reproduktionserfolges argumentiert, müsse Homosexualität als dramatische biologische Fehlanpassung und folglich tatsächlich als psychische Erkrankung betrachtet werden – was heutzutage in keinem Fall mehr akzeptabel erscheint. Befürwortende des Normativismus ihrerseits haben Schwierigkeiten damit zu erklären, warum nur bestimmte sozial missliebige Verhaltensweisen als krankhaft gebrandmarkt werden, während andere Verhaltensauffälligkeiten kriminalisiert oder in weniger problematischen Fällen mit bloßer Missbilligung gestraft werden.
Christopher Boorse hat mit seiner biostatistischen Theorie eine besonders einflussreiche Variante eines naturalistischen Krankheitsbegriffs begründet:
Boorse, C. (1975): On the Distinction between Disease and Illness. In: Philosophy & Public Affairs 5, 49–68.
Als Wegbereiter der normativistischen Sichtweise psychischer Erkrankungen gilt der Psychiater Thomas Szasz:
Szasz, T. S. (1974): The Myth of Mental Illness: Foundations of a Theory of Personal Conduct. New York: Harper & Row.
Einen allgemeinen Überblick über die Kontroversen um den Krankheitsbegriff bietet:
Lanzerath, D. (2000): Krankheit und ärztliches Handeln. Zur Funktion des Krankheitsbegriffs in der medizinischen Ethik. Freiburg i. Br.: Alber.
Zu den Implikationen verschiedener Krankheitstheorien für das Verständnis des Enhancement-Begriffs siehe:
Juengst, E. T. (1998): What Does Enhancement Mean? In: Parens, E. (Ed.): Enhancing Human Traits: Ethical and Social Implications. Washington: Georgetown University Press, 29–47. Dt. (2009): Was bedeutet Enhancement? In: Schöne-Seifert, B. / Talbot, D. (Hg.): Enhancement. Die ethische Debatte. Paderborn: mentis, 25–45.
Helmchen, H. (2007): Tragweite und Grenzen der Naturalisierung des Kranheitsbegriffes: Das Beispiel Psychiatrie. In: Honnefelder, L. (Hg.): Naturalismus als Paradigma: Wie Weit reicht die naturwissenschaftliche Erklärung des Menschen? Berlin: Berlin University Press, 279–304.
Hucklenbroich, P. (2012): Der Krankheitsbegriff als Unterscheidungskriterium zwischen Therapie und Enhancement. In: Hilgendorf, E. / Joerden, J. C. / Petrillo, N. / Thiele, F. (Hg.): Menschenwürde in der Medizin: Quo vadis? Baden-Baden: Nomos, 395–422.
Lenz, P. (2018): Der theoretische Krankheitsbegriff und die Krise der Medizin. Stuttgart: J. B. Metzler.