Personale Identität

Der Begriff der Person erfüllt in verschiedenen Bereichen der theoretischen und praktischen Philosophie unterschiedliche Rollen. Daraus ergibt sich eine Vielzahl konkurrierender begrifflicher Bestimmungen dessen, was es bedeutet, eine Person zu sein. Als Kriterien dafür, dass einem Individuum ein (deskriptiver oder normativer) Personenstatus zugeschrieben werden kann, werden je nach Personenbegriff verschiedene Merkmale oder Fähigkeiten als Bedingungen für eine solche Zuschreibung identifiziert. Häufig genannt werden dabei Vernunft, Bewusstsein, Selbstbewusstsein, zielgerichtetes Handeln oder die Fähigkeit der normativen Orientierung.

Die Frage nach den Kriterien für die Zuschreibung des Personenstatus ist von der Frage nach dem Problem der zeitübergreifenden Identität einer Person zu unterscheiden: Unter welchen Bedingungen bleibt eine Person über die Zeit hinweg dieselbe Person, also mit sich selbst numerisch identisch, obwohl sie im Laufe ihrer Existenz physische oder psychische Veränderungen durchlebt? Numerische Identität ist ein Relationsbegriff aus dem Bereich der Logik und bedeutet die Identität eines Gegenstands mit sich selbst. Bei einer numerisch identischen Person handelt es sich also um ein und dieselbe Person und nicht um zwei Personen, die sich in allen Hinsichten gleichen. In philosophisch-ethischen Debatten über die Bedingungen der Fortdauer (Persistenz) der Identität einer Person wird in diesem Kontext auch von diachroner Identität gesprochen, welche die Kontinuität des „Ichs“ über die Zeit hinweg (griech.: diá (διά) „durch“ und chrónos (χρόνος) „Zeit“) trotz körperlicher oder psychischer Wandlungen beschreibt. Die Tatsache, dass ein Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt t1 die jeweils vorausgesetzten Kriterien erfüllt, um als Person zu gelten, und dass es diese Kriterien auch zu einem späteren Zeitpunkt t2 noch erfüllt, bedeutet nicht zwangsläufig, dass es sich hierbei um ein und dieselbe Person handelt, dass also numerische Identität vorliegt. Es könnte sich ebenso um zwei numerisch verschiedene Personen handeln.

Damit diachrone Identität im numerischen Sinne gegeben ist, müssen außer der generellen Zuschreibung des Personenstatus zusätzliche Bedingungen erfüllt sein – welche genau das sind, ist Gegenstand einer langanhaltenden und kontroversen Debatte in der Philosophie. Es lassen sich verschiedene Ansätze anführen, auf deren Basis für das (Nicht-) Vorliegen einer diachronen personalen Identität argumentiert werden kann. Mit Bezug auf die Frage, welche Eigenschaften einer Person maßgeblich dafür sind, dass sie über die Zeit und verschiedenste Veränderungen hinweg als ein und dieselbe (re-)identifiziert werden kann, lassen sich vor allem psychologische und biologische Auffassungen diachroner personaler Identität unterscheiden: 

Das Kriterium der psychologischen Verknüpfung

Gemäß dieses Kriteriums ist die diachrone personale Identität einer Person über die Zeit hinweg dadurch gegeben, dass psychologische Beziehungen zwischen zeitlich früheren und späteren mentalen Zuständen bestehen. Neben der Erinnerung an vergangene Erfahrungen umfasst dies die Umsetzung aktueller Absichten in zukünftiges Handeln sowie den langfristigen Fortbestand von Überzeugungen, Einstellungen und Charakterzügen. Diese Verknüpfungen strukturieren das Leben einer Person über die Zeit hinweg und sichern diesem Kriterium gemäß ihre diachrone personale Identität im numerischen Sinne.

Einwände gegen das Kriterium der psychologischen Verknüpfung für eine Zuschreibung diachroner Identität ergeben sich aus dessen Unvereinbarkeit mit den generellen Eigenschaften numerischer Identität: Die der Logik entstammende Relation der numerischen Identität erlaubt keine graduellen Abstufungen – zwei Gegenstände oder Entitäten sind entweder im numerischen Sinne identisch, wenn sie nämlich eigentlich ein und derselbe Gegenstand bzw. ein und dieselbe Entität sind, oder sie sind es nicht. Psychologische Verknüpfungen können allerdings graduell ausgeprägt sein, etwa in der Dichte oder Intensität von Erinnerungen. Da das Kriterium der psychologischen Verknüpfung sich also einigen Kritikpunkten ausgesetzt sieht, werden alternative Kriterien für die Zuschreibung diachroner personaler Identität diskutiert:

Das Kriterium der psychologischen Kontinuität

Bei diesem Kriterium steht in Abgrenzung zu dem der psychologischen Verknüpfung die kontinuierliche Verkettung überlappender psychologischer Verknüpfungen im Vordergrund, anstelle direkter Erinnerungsverbindungen. Die psychologische Kontinuität und damit die zeitübergreifende Identität bleibt entsprechend bestehen, solange sich die Kette der psychologischen Verknüpfungen über die Zeit hinweg fortsetzt, wobei Erinnerungen sich hier wie die Fasern eines Fadens überlappen. Damit erfüllt die psychologische Kontinuität als Kriterium für diachrone personale Identitätszuschreibung die Anforderungen der Nicht-Abstufbarkeit von numerischer Identität und ist daher mit den Voraussetzungen numerischer Identität vereinbar.

Das Kriterium der körperlichen Kontinuität

Das biologische Kriterium der körperlichen Kontinuität stellt bei der Zuschreibung diachroner personaler Identität, anders als die beiden vorhergegangenen Kriterien, physische Aspekte in den Mittelpunkt. So wird die körperliche Kontinuität des menschlichen Organismus, oder enger gefasst die Fortexistenz eines funktionierenden Gehirns, als Grundlage für die diachrone personale Identität angenommen. Hier bleibt eine Person im numerischen Sinne so lange dieselbe, wie ihr Leib als derselbe Organismus oder ihr Gehirn als funktionsfähiges Organ fortbesteht. Eine Person kann also nicht zu einer anderen werden, ganz gleich, wie tiefgreifend sie sich in ihren psychischen Eigenschaften verändern mag, weil solche Veränderungen die Identität des biologischen Organismus unberührt lassen.

Anders als biologische lassen psychologische Theorien des Personenbegriffs Raum für die Möglichkeit eines Wechsels personaler Identität. Diese Möglichkeit ist dann gegeben, wenn die psychischen Zustände eines Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten so radikal verschieden sind, dass es nicht plausibel scheint, diese Zustände derselben Person zuzuschreiben. Im Falle des Gedächtnisses könnte sich ein Wechsel personaler Identität im numerischen Sinn beispielsweise in Form einer vollständigen retrograden Amnesie manifestieren, also in Situationen, in denen eine Person jede Erinnerung an Erlebnisse vor einem traumatischen Ereignis verloren hat. Ein weiterer, im Bereich der angewandten und spezifisch Medizinethik stark diskutierter Fall wäre eine weit fortgeschrittene Demenzerkrankung. Auch im Kontext der Debatte um Enhancement stellt sich die Frage, ob und inwieweit durch gewisse biologische oder biotechnologische Enhancementmaßnahmen die personale Identität einer Person beeinflusst wird (siehe Modul Literaturüberblick Enhancement und Identität).

Für einflussreiche Konzeptionen der personalen Identität siehe:

Quante, M. (2007): Person. Berlin/New York: De Gruyter. 

Quante, M. (Hg.) (1999): Personale Identität. Stuttgart: UTB. 

Parfit, D. (1984): Reasons and Persons. New York: Oxford University Press.

Locke, J. (1981): Versuch über den menschlichen Verstand [1690]. 2. Bde., übers. von C. Winckler, 4. durchges. und erw. Aufl. Hamburg: Meiner. 

Kant, I. (1785): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga: J. F. Hartknoch.

Für eine allgemeine historische und systematische Einordnung des Personenbegriffs siehe etwa:      

Sturma, D. (Hg.) (2001): Person: Philosophiegeschichte - theoretische Philosophie - praktische Philosophie. Paderborn: Mentis.

Sturma, D. (1997): Philosophie der Person. Die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität. Paderborn: Schöningh.

Für weitere Informationen zu personaler Identität im ethischen Kontext vgl. etwa:

Knell, S. (2022): Demenz: Ethische Aspekte. In: Sturma, D. / Lanzerath, D. (Hg.): Demenz. Naturwissenschaftliche, rechtliche und ethische Aspekte. Sachstandsberichte des DRZE 23. Baden-Baden: Nomos. Online Version

Gasser, G. (2022): Personale Identität, Verkörperung und Personentransfers: Eine identitätstheoretische Skizze. In: Willmann, T. / El Maleq, A. (Hg.): Sterben 2.0: (Trans-)Humanistische Perspektiven zwischen Cyberspace, Mind Uploading und Kyronik. Berlin/Boston: De Gruyter. Online Version

Sturma, D. (2021): Identität der Person. In: Fuchs, M. (Hg.): Handbuch Alter und Altern. Stuttgart: J. B. Metzler, 348–354.

Segawa, S. (2020): Der Begriff der Person in der biomedizinischen Ethik. Paderborn: Brill/Mentis.

Dufner, A. (Hg.) (2018): Schwerpunkt: Philosophie der Demenz. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie, 5 (1), 73–230. Online Version

Darin insbesondere: Dufner, A. (2018): Einleitung: Demenz und personale Identität. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie, 5 (1), 73–80. Online Version

Witt, K. (2018): Demenz und personale Identität. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie Band 5 (1), 153–180. Online Version

Wird geladen