Öffentlich gefördertes kognitives Enhancement
Welche Konsequenzen die staatliche Sicherung des freien Zugangs zu potenten Neuro-Enhancement-Präparaten (NEP) für die Verteilung von Chancen zur gesellschaftlichen Teilhabe hätte, hinge unter anderem davon ab, ob solche Präparate bei allen Menschen den gleichen Zuwachs etwa an Konzentrationsfähigkeit oder Erinnerungsvermögen bewirken würden. Wäre dies der Fall, würde das absolute kognitive Fähigkeitsniveau angehoben, was sowohl aus gesellschaftlicher Perspektive als auch aus der Perspektive der einzelnen Person durchaus nützlich sein könnte. Vom Standpunkt der Gerechtigkeit wäre diese Möglichkeit jedoch neutral zu bewerten, weil die relative Verteilung kognitiver Fähigkeiten unverändert bliebe. Eine regelrechte Nivellierung vorhandener Ungleichheiten der geistigen Leistungsfähigkeit auf höherem Niveau könnte die flächendeckende Nutzung von NEPs dagegen dann nach sich ziehen, wenn Personen mit niedrigerem kognitiven Ausgangsniveau stärker von deren Wirkung profitieren würden als solche mit ohnehin überdurchschnittlich ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten. Sollte sich hingegen herausstellen, dass die vorhandenen Unterschiede im kognitiven Bereich durch die verbreitete Einnahme eines bestimmten NEPs eher noch vergrößert werden, würden Gerechtigkeitserwägungen eher gegen dessen staatliche Subventionierung sprechen.
Die Möglichkeit, die Fehlerrate der Angehörigen von Berufsständen, die sich sowohl durch hohe kognitive Anforderungen als auch durch besonders große Verantwortung auszeichnen, mit potenten Neuro-Enhancement-Verfahren zu senken, wird häufig als ein Sonderfall des kognitiven Enhancements diskutiert. Da der gesellschaftliche Nutzen erheblich sein könnte, wenn Pilot*innen, Fachpersonal der Chirugie oder Fluglots*innen dank entsprechender pharmazeutischer Präparate oder auch dank Stimulationsverfahren wie der Transkraniellen Magnetstimulation (vgl. Modul Nicht-invasive Stimulationsverfahren) weniger Fehler begingen, würden egoistische Motive des Neuro-Enhancements hier eine untergeordnete Rolle spielen. Sofern die Nutzung der betreffenden Verfahren freiwillig und hinreichend sicher wäre, könnten Personen in diesen Berufen dennoch auch persönliche Vorteile aus ihrer Anwendung ziehen, weil sie die verbesserte Fähigkeit zur Erfüllung ihrer Pflichten als befriedigend erleben würden. Manche Bioethiker*innen nehmen diese besonderen Anwendungsszenarien daher zum Anlass, um zu fragen, ob Neuroenhancement in diesen Fällen nicht nur erlaubt, sondern womöglich gar geboten sein könnte, ob es sich also unter bestimmten Umständen rechtfertigen ließe, von Chirurg*innen oder Pilot*innen die Bereitschaft zur Anwendung bestimmter Enhancement-Verfahren einzufordern.
Speziell mit der Möglichkeit eines kognitiven Enhancements von Fachleuten der Chirurgie befassen sich die folgenden Artikel:
Warren, O. J. / Leff, D. R. / Athanasiou, Th. / Kennard, C. / Darzi, A. (2009): The Neurocognitive Enhancement of Surgeons: An Ethical Perspective. In: Journal of Surgical Research 152, 167–172. doi:10.1016/j.jss.2007.12.761.
Goold, I. / Maslen, H. (2014): Must the Surgeon Take the Pill? Negligence Duty in the Context of Cognitive Enhancement. In: Modern Law Review 77, 60–86. doi:10.1111/1468-2230.12056.
Patel, R. / Ashcroft, J. / Darzi, A. / Singh, H. /Leff, D. R. (2020): Neuroenhancement in Surgeons: Benefits, Risks and Ethical Dilemmas. British Journal of Surgery 107, 946–950. doi:10.1002/bjs.11601. Online Version (Englisch)
Patel, R. / Rai, A. / Thornton-Wood, F. / Wilkinson, A. / Darzi, A. / Singh, H. / Leff, D. R. (2021): Neuroenhancement of Future Surgeons – Opinions from Students, Surgeons and Patients. In: Brain Stimulation 14, 616–618. doi:10.1016/j.brs.2021.03.012. Online Version (Englisch)