Sucht- bzw. Abhängigkeitssyndrom nach ICD und DSM
Zu den beiden international einflussreichsten psychiatrischen Diagnosemanualen gehört zum einen die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (engl.: World Health Organization, WHO). Dieses Klassifikationssystem wird seit seiner Einführung regelmäßig revidiert und aktualisiert. Die aktuell international gültige Revision ICD-11 trat am 01. Januar 2022 in Kraft und löst damit offiziell die zuvor gültige ICD-10 ab. Die ICD-10 erschien erstmalig im Jahr 1994 und wurde 2019 das letzte Mal aktualisiert.
Nebst der offiziellen Übersetzungen der in englischer Sprache verfassten internationalen ICD-10 in andere Sprachen gibt es zudem nationalspezifisch modifizierte Adaptionen der ICD-10, die besser an die nationalen Gegebenheiten und Erfordernisse der jeweiligen Gesundheitssysteme angepasst sind: In Deutschland etwa ist dies die „ICD-10 German Modification“ (ICD-10-GM), die durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) herausgegeben wird. Während die ICD-10 der WHO in Deutschland vor allem als Klassifizierungssystem den Bereich der Mortalität dient, kommt die ICD-10-GM für das ambulante wie stationäre Gebiet der Morbidität zur Anwendung. Aufgrund der engen und strukturellen Einbettung des ICD-10 bzw. ihrer nationalen Adaptionen in die nationalen Gesundheitssektoren wird jedoch etwa in Deutschland seitens des BfArM eine Übergangszeit der Anwendung und Implementierung von der ICD-10 zur aktuellen Fassung ICD-11 von etwa fünf Jahren eingeräumt. Obwohl die ICD-11 offiziell die aktuelle Fassung ist, bleiben so zurzeit auf nationalen Ebenen die ICD-10 bzw. deren modifizierten Versionen weiterhin die gültigen Klassifikationssysteme.
Ein weiteres international relevantes Diagnosemanual ist das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) der American Psychiatric Association (APA). Während die ICD sämtliche medizinische Erkrankungen einschließt, umfasst das DSM lediglich psychische Störungen. Wie die ICD wurde auch das DSM über die Jahre seit seiner Entstehung hinweg Aktualisierungen und Revisionen unterzogen. Im Jahr 2013 wurde das DSM-5 veröffentlicht, jedoch im März 2022 von der überarbeiteten Fassung DSM-5-TR (Text Revision) abgelöst. Das DSM-5-TR ist hierbei nicht als eine gänzlich neue Version im Sinne eines DSM-6 des Diagnosesystems zu verstehen, sondern als Revision, die insbesondere die Forschungs- und Statistikdaten des DSM-5 aktualisiert, die nunmehr als veraltet gelten können.
Die WHO führte 1964 anstelle des Begriffs der Sucht den Begriff der Abhängigkeit in die ICD ein, um den Charakter des „Abhängigkeitssyndroms“, bezogen auf Medikamente und andere Substanzen, als Krankheit zu betonen und so der Stigmatisierung Betroffener entgegenzuwirken. Liegen Muster von Substanzgebrauch vor, die eine körperliche oder psychische Gesundheitsschädigung bewirken, ohne dass ein Abhängigkeitssyndrom vorliegt, ist in der ICD-10 nun von schädlichem Substanz- oder Medikamentengebrauch die Rede (in vormaligen ICD-Versionen noch als Missbrauch bezeichnet). Während Abhängigkeit vorwiegend im Zusammenhang der Einnahme psychotroper, also auf die Psyche einwirkender Medikamente wie Schlaf- und Beruhigungsmitteln (Hypnotika bzw. Sedativa) oder Aufputschmitteln (Stimulanzien) auftritt, kann auch von nichtabhängigkeitserzeugenden Medikamenten wie Abführmitteln (Laxantien) oder Appetitzüglern (Anoretika) ein nicht bestimmungsgemäßer schädlicher Gebrauch gemacht werden.
Im DSM-5 wurde die zuvor bestehende Differenzierung zwischen Abhängigkeit und Missbrauch verworfen und stattdessen der Begriff des Substanzgebrauchs eingeführt, der Substanzabhängigkeit und -missbrauch nun in dem Störungsbild der „Substanzgebrauchsstörung“ zusammenfasst. Außerdem wurde im DSM-5 anstatt der Kategorie der „Substanzbezogenen Störungen“ nun die neue Klassifizierung von „Sucht und zugehörige Störungen“ etabliert, da nun auch stoffungebundene Störungen bzw. Verhaltensstörungen wie etwa das pathologische Glücksspiel enthalten sind.
Sowohl die ICD-10 als auch die ICD-11 beschreiben das Abhängigkeitssyndrom anhand der folgenden sechs Kriterien:
- Starker Konsumdrang
- Kontrollverlust
- Toleranzentwicklung
- Körperliche Entzugssymptome
- Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Substanzkonsums
- Anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen
Das DSM-5-TR wiederum enthält für die Diagnose von Substanzgebrauchsstörungen elf Kriterien, die in die folgenden vier Kategorien eingeteilt sind:
- Beeinträchtigte Kontrolle über den Einsatz
- Soziale Beeinträchtigung
- Riskanter Einsatz
- Pharmakologische Symptome
Weiterführende Informationen zur International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems:
ICD-10 Online Version
ICD-10-GM Online Version
ICD-11 Online Version (Englisch)
ICD-11 Deutsch, Entwurfsfassung Online Version
Mehr Infos zu ICD-11 der WHO Online Version (Englisch)
Zur Historie der ICD siehe:
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: ILCD bis ICD-10 Online Version
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: ICD-10-WHO – Versionsverlauf Online Version
Zur Genese der German Modification der ICD-10 siehe Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: ICD-10-GM – Versionsverlauf und Bekanntmachungen Online Version
Weiterführende Informationen zum Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders:
DSM-5-TR Online Version (Englisch)
American Psychiatric Association: DSM-5-TR Fact Sheets Online Version (Englisch)
Zur Historie des DSM siehe:
American Psychiatric Association: DSM History Online Version (Englisch)
Zu Inhalten und Änderungen hinsichtlich Abhängigkeit von ICD-10 zu ICD-11 und DSM-5 siehe:
Heinz, A. / Halil, M. G. / Gutwinski, S. / Beck, A. / Liu, S. (2022): ICD-11: Änderungen der diagnostischen Kriterien der Substanzabhängigkeit. In: Der Nervenarzt 93, 51–58. Online Version
Khan, M. (2022): Substanzgebrauchsstörung. MSD Manual. Ausgabe für medizinische Fachkreise. Online Version
Mühlig, S. (2022): Sucht- und Substanzbezogene Störungen. In: Wirtz, M. A. (Hg.): Dorsch. Lexikon der Psychologie. Bern: Hofgrefe. Online Version
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (2020): Medikamentenabhängigkeit. Bd. 5 Suchtmedizinische Reihe. Online Version
Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. (2019): Diagnostische Kriterien der Abhängigkeit von aus medizinischer Indikation verordneten Opioiden. Online Version
Rumpf, H.-J. / Mann, F. (2017): Die Verhaltenssüchte in der ICD-11: Ein Update. In: Sucht 63 (6), 305–306. Online Version
Rumpf, H.-J. / Kiefer, F. (2011): DSM-5: Die Aufhebung der Unterscheidung von Abhängigkeit und Missbrauch und die Öffnung für Verhaltenssüchte. In: Sucht 57, 45–48. Online Version
Bundesärztekammer / Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (Hg.) (2007): Medikamente – schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit. Leitfaden für die ärztliche Praxis. Online Version