Forschung an Behandlungsdaten
Stand: Dezember 2024
Ansprechpartnerin: Aurélie Halsband
Im Rahmen von ärztlichen Behandlungen wie etwa Kontrolluntersuchungen oder Akuttherapien werden Daten zur medizinischen Behandlung von Personen erhoben und in Patientenakten und weiteren Formaten abgelegt. Bisher wurden diese Daten nicht oder nur in sehr begrenztem Umfang für die medizinische Forschung genutzt. Die Daten zur Diagnose und Behandlung von Patient*innen bergen jedoch ein großes Potenzial für biomedizinische Erkenntnisse und damit auch für eine verbesserte Versorgung von Patient*innen.
1. Das Potenzial von Behandlungsdaten für die medizinische Forschung
Das besondere Potenzial der Nutzung klinischer Daten für die medizinische Forschung besteht zunächst darin, dass die ohnehin im Behandlungskontext erfassten Daten für Forschungszwecke zweitverwertet werden könnten. Weiterhin bilden die Daten, die im Zuge tatsächlicher Behandlungen erhoben werden, die Versorgungspraxis realitätsnäher ab als die in klinischen Studien erhobenen Daten. Diese Nähe zum ärztlichen Alltag ist deshalb von Bedeutung, weil detailliertere Einblicke in die Patientenversorgung zugleich auch mehr Einblicke in mögliche Ansätze zur Verbesserung derselben bieten. So bilden beispielsweise Daten aus der Versorgung in der Regel genauer die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ab, da z. B. Frauen, ältere Menschen, Kinder, aber auch Menschen mit seltenen Erkrankungen in klinischen Studien oft unterrepräsentiert sind.
Darüber hinaus lassen sich mit Behandlungsdaten eine Reihe von zum Teil sehr unterschiedlichen Studienarten realisieren. Die Bandbreite erstreckt sich unter anderem von Studien zur Wirksamkeit von Arzneimitteln über Studien zur retrospektiven Bemessung des Erfolges von Heilversuchen, zur Früherkennung von Infektionsketten in Krankenhäusern bis hin zu epidemiologischen Studien zur Verteilung von Erkrankungen in bestimmten Bevölkerungsgruppen. Die mit dieser Vielzahl von möglichen Studien verbundenen Hoffnungen richten sich etwa auf die Möglichkeit einer stärker personalisierten Medizin, einer verbesserten Krankheitsprävention und auf eine Reduktion von Nebenwirkungen in bestehenden Therapien.
Die Absicht, dieses Potenzial zu nutzen, ist in den letzten Jahren auch deshalb gewachsen, weil die Möglichkeiten der Auswertung großer Datenmengen durch die Weiterentwicklung von Informationstechnologien und künstlicher Intelligenz stark erweitert werden konnten. Viele Anwendungen, die hierfür künstliche Intelligenz einsetzen, benötigen für Trainingszwecke jedoch wiederum umfangreiche Datensätze aus dem Behandlungsalltag.
Es ist jedoch wichtig Vorhaben in der medizinischen Forschung, die sich auf die Auswertung großer Mengen von Daten wie etwa Behandlungsdaten stützen, von klinischen Studien wie etwa Arzneimittelstudien zu unterscheiden. Der Unterschied zwischen diesen Studienarten lässt sich zum Beispiel an dem Stellenwert einer wissenschaftlichen Hypothese in den jeweiligen Untersuchungen festmachen. So sind Arzneimittelstudien darauf gerichtet in mehreren Phasen zu prüfen, ob ein bestimmter Wirkstoff zur Heilung oder Linderung einer bestimmten Erkrankung eingesetzt werden kann. Hier wird die Hypothese überprüft, ob der Wirkstoff verträglich, sicher und wirksam ist, auch im Vergleich zu anderen bereits eingesetzten Arzneien. Datenreiche Forschung ist hingegen oftmals auf Herausarbeiten von Korrelationen ausgerichtet, die in großen Datensätzen ausgemacht werden. Erst in einem späteren Schritt werden diese Korrelationen mit einer Hypothese zu möglichen kausalen Zusammenhängen untersucht. Auf diese Weise können datengestützte Studien die Prüfung von Hypothesen in Arzneimittelstudien vorbereiten. Weiterhin verspricht ein breitflächiger Zugriff auf Behandlungsdaten eine bessere Planbarkeit von klinischen Studien, indem vorab etwa die Anzahl und räumliche Verteilung von potenziellen Proband*innen genauer abgeschätzt werden könnte. Klinische Studien und medizinische Forschung an klinischen Daten (Behandlungsdaten) können sich also durchaus ergänzen und tragen doch jeweils unterschiedlich zum übergreifenden Erkenntnisgewinn in der Medizin bei (siehe auch Teil II, Die Abgrenzung von medizinischer Behandlung und Forschung).
2. Herausforderungen der Arbeit an Behandlungsdaten
Behandlungsdaten, oder auch klinische Daten, zählen zu dem übergreifenden Bereich der sogenannten Gesundheitsdaten. Klinische Daten stammen von Arztpraxen, Kliniken oder Krankenkassen und werden im Rahmen von ärztlichen Untersuchungen erhoben und archiviert. Klinische Daten können ergänzend auch von nicht-klinischen Quellen wie etwa Fitness-Apps stammen. Der Fokus der Diskussionen und Bemühungen zur Sekundärnutzung von klinischen Daten für die Forschung ist primär auf die klinischen Daten aus Praxen, Kliniken und Krankenkassen gerichtet.
Obgleich es bei der Sekundärnutzung von Behandlungsdaten für die medizinische Forschung um die Nutzung von ohnehin erhobenen Daten geht, sind diese Daten nicht immer unmittelbar für die Forschung nutzbar. Um sie nutzen zu können, bedarf es der sogenannten Datenarbeit. Bei Daten handelt es sich nicht um Rohstoffe, die je nach Zweck verarbeitet werden können, sondern um Informationen, die aus bestimmten gesellschaftlichen Kontexten mit Blick auf spezifische Ziele festgehalten wurden. So müssen auch die Daten zur Patientenversorgung auf spezifische Weisen abgelegt, vernetzt und verfügbar sein, um sie für Forschungszwecke nutzen zu können. Eine solche Praxis der Datengewinnung setzt einen entsprechenden technischen sowie organisatorischen Rahmen voraus.
Technische Voraussetzungen
Auf der technischen Ebene besteht eine große Herausforderung darin, die sogenannte Interoperabilität der Datensysteme zu gewährleisten. Beispielsweise müssen Datenbanken, Software und weitere Systeme der datensammelnden Institutionen, also insbesondere der Kliniken und ärztlichen Praxen, so aufgestellt sein, dass ein Transfer von Daten untereinander sowie an die verschiedenen Forschungseinrichtungen ohne Verfälschungen und größere Zwischenschritte möglich ist.
Weiterhin müssen Daten möglichst vollständig sein, da Informationslücken zu Verzerrungen bei der Interpretation führen können. Die dazu erforderliche Harmonisierung und Standardisierung der Datenerfassung und -ablage muss im Sinne eines breiten medizinischen Erkenntnisgewinns dabei längerfristig auch staatenübergreifend realisiert werden, was zusätzliche regulatorische Herausforderungen einschließt.
Schließlich muss gewährleistet werden, dass die im Behandlungskontext erfassten Daten auch für den Forschungskontext valide sind. Dazu muss unter anderem in den Forschungsvorhaben der ursprüngliche Kontext der Datengewinnung, also der Behandlungskontext, klar nachvollziehbar sein. Weiterhin muss dieser Kontext der Erhebung bei der Einbettung der Daten in Forschungsvorhaben entsprechend berücksichtigt werden, da es sonst zu Verzerrungen kommen kann.
Organisatorische Voraussetzungen
Die technische Herausforderung ist eng mit der organisatorischen Herausforderung verbunden, dafür Sorge zu tragen, dass dieses systematische Vorgehen in die Abläufe der Patientenversorgung integriert wird. Neben der technischen Vereinbarkeit der Systeme muss nämlich auch gewährleistet sein, dass das Gesundheitspersonal parallel zur regulären Versorgung der Patient*innen die Daten entsprechend systematisch erfasst und ablegt. Bisherige Ablagearten von Informationen zur Behandlung von Patient*innen, etwa Arztbriefe, können nicht etwa unmittelbar in diese Systeme integriert werden, sondern müssen in anderen Formaten abgelegt werden.
Weiterhin müssen für eine Verwertung in der medizinischen Forschung zusätzliche Daten erhoben werden, die für die Behandlung unmittelbar keine Rolle spielen. Informationen zur Behandlung von schweren Krankheitsverläufen in Spezialkliniken müssen beispielsweise die Spezialisierung der Klinik sowie die damit verbundene höhere Anzahl von Patient*innen mit schwerem Krankheitsverlauf mit abbilden, um insgesamt die Verteilung dieser Fälle in der Gesellschaft nicht verfälscht darzustellen. Die damit verbundenen Umstände für das ärztliche und pflegende Personal dürfen dabei nicht zu Lasten der Qualität der Behandlung der Patient*innen gehen (s. Teil II, Abschnitt Gesundheitsberufe, Patientenwohl und medizinische Forschung).
Aus Sicht der Patient*innen ist darüber hinaus auch entscheidend, dass die abgelegten und schließlich weiter genutzten Behandlungsdaten vor einer missbräuchlichen Nutzung geschützt sind (s. Teil II, Abschnitt Patient*innenautonomie und medizinische Forschung). Auch die zum Teil fragmentierte Rechtsgrundlage zur Sekundärnutzung von Behandlungsdaten für die Forschung stellt eine Hürde dar, in der unter anderem die rechtlichen Normen auf Länder-, Bundes- und EU-Ebene zum Datenschutz und zur informierten Einwilligung in Einklang zu bringen sind.
Im Hinblick auf das Ziel, Patientendaten interoperabel, sicher und niedrigschwellig in der medizinischen Forschung (weiter) zu nutzen, sind umfassende technische, regulative und organisatorische Voraussetzungen zu schaffen. In Deutschland wird dieses Ziel mit der sogenannten Medizininformatik-Initiative (MII) sowie mit dem Aufbau einer Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) verfolgt und staatlich gefördert.
Eine übergreifende Konfliktlinie des ethischen Diskurses zur Sekundärnutzung von Behandlungsdaten für die medizinische Forschung besteht in dem Gegensatz zwischen der Förderung des Patientenwohls einerseits und der des Gemeinwohls andererseits. Obgleich medizinische Forschung und Patientenversorgung beide auf das übergreifende Ziel einer verbesserten Patientenversorgung abzielen, unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer Binnenziele.
Im Folgenden wird daher zunächst die Abgrenzung des Bereichs der medizinischen Versorgung und Behandlung von dem Bereich der medizinischen Forschung beleuchtet. Wesentliche Facetten eines möglichen Abwägungskonflikts zwischen Patientenwohl und Gemeinwohl werden anschließend aus der Perspektive von Patient*innen und ihrer Bereitschaft zur Freigabe von Behandlungsdaten für die medizinische Forschung näher betrachtet; auch mit Blick auf die Frage, inwiefern sensiblen Patientendaten vor einer nicht autorisierten Weitergabe sowie vor einer möglichen missbräuchlichen Nutzung geschützt werden können. Ergänzt wird diese Abwägung durch mögliche Kollisionen zwischen dem beruflichen Ethos des ärztlichen und pflegenden Personals, das primär auf das Patientenwohl ausgerichtet ist, und der Anforderung, Behandlungsdaten begleitend so zu erfassen, dass auch ein Beitrag für die Forschung und das Gemeinwohl entstehen kann. Auch wenn das Wohl der Patient*innen in der Regel besonders stark gewichtet wird, sind Forschungsfreiheit und Erkenntnisgewinn ebenfalls hohe Schutzgüter. In einem weiteren Abschnitt wird dargelegt, wie ethische Überlegungen die Schaffung einer ethisch-rechtlichen Governance-Struktur für die Forschungsnutzung von Behandlungsdaten zugleich im Interesse von Patient*innen und der Gemeinschaft mit anleiten könnten.
1. Die Abgrenzung von medizinischer Behandlung und medizinischer Forschung
Sowohl in der Ethik wie auch im Recht wurden bisher der Bereich der medizinischen Behandlung stark von dem der medizinischen Forschung getrennt. Nimmt man den Gegensatz zwischen Patientenwohl und Gemeinwohl als Ausgangspunkt, so wurde der Unterschied zwischen Behandlung und medizinischer Forschung etwa so dargestellt: Die Patientenversorgung hat unmittelbar die Verbesserung oder Wiederherstellung des Wohls einer einzelnen Person im Blick, die sich in medizinische Behandlung begibt. Hingegen zielt medizinische Forschung nur mittelbar auf die Verbesserung des individuellen Wohls ab, da sie unmittelbar zunächst auf den medizinischen Erkenntnisgewinn abzielt. Erst in einem weiteren Schritt können neu gewonnene Erkenntnisse bestenfalls dann auch eingesetzt werden, um das Wohlergehen von Individuen zu verbessern.
Diese Unterscheidung wird weitläufig auch als Grund dafür genannt, warum klinische Studien der Genehmigung durch eine Ethikkommission unterliegen, nicht jedoch medizinische Behandlungen. Da erstere nicht unmittelbar das Wohl der einzelnen Proband*innen als Ziel habe, zum Teil jedoch Proband*innen Risiken aussetzen, müssen hier ethische Standards gesondert gewahrt werden. In Reaktion auf das zunehmende Verzahnen von Gesundheitsversorgung und medizinischer Forschung, insbesondere im Kontext der breitflächigen Auswertung von Patientendaten im Rahmen medizinischer Forschung, wird diese Abgrenzung jedoch zunehmend in Frage gestellt.
Während bisher etwa das Erlangen von verallgemeinerbaren Erkenntnissen und ein darauf ausgerichtetes, systematisches Vorgehen allein dem Bereich der medizinischen Forschung zugesprochen wurde, scheint zunehmend auch die Behandlung von Patient*innen diese Merkmale aufzuweisen. So ist etwa das systematische Erfassen von Daten zu Patient*innen und ihrer Behandlung immer häufiger fester Bestandteil der medizinischen Praxis, und damit nicht ausschließlich dem Bereich der Forschung zuzumessen. Dieses systematische Erfassen und Auswerten von Daten aus der Behandlung erfolgt dabei nicht nur in der Forschung, sondern auch für Maßnahmen der Gesundheitspolitik oder Krankenkassen. Daten zu medizinischen Behandlungen einzelner Patient*innen sind daher vermehrt ohnehin in größere Kontexte jenseits des individuellen Patientenwohls eingebettet. Auch ist die medizinische Praxis unmittelbar mit der Produktion verallgemeinerbarer Erkenntnisse verbunden, integriert sie doch stetig Erkenntnisse aus Studien und liefert in Reaktion hierauf wiederum Daten an die Forschung zurück, die diese idealiter weiterführend wissenschaftlich untersucht. Dass Forschung allein auf die Verbesserung des Gemeinwohls hin ausgerichtet ist, medizinische Praxis dagegen ausschließlich auf das Wohl der individuellen Patient*innen, scheint daher gerade mit Blick auf die Sekundärnutzung von Behandlungsdaten in der Forschung auf einem scharfen Gegensatz zu beruhen, der in der Praxis immer häufiger so nicht ausgemacht werden kann und vielmehr auf verschränkte Kontexte stößt.
2. Patientenautonomie und medizinische Forschung
Eine weitere Facette der Abwägung von einerseits an dem Gemeinwohl orientierter Forschung und andererseits am individuellen Wohl orientierter medizinischer Behandlung zeigt sich an der Debatte zu Pflichten und Rechten von Patient*innen bei der Weitergabe ihrer medizinischen Daten an die Forschung.
Patientenautonomie, Datensicherheit und medizinischer Forschung
Bei Behandlungsdaten handelt es sich um zumeist sensible Informationen über die Gesundheit einer Person. Sensibel sind diese Daten, weil sie Rückschlüsse über z. B. Krankheitsdispositionen oder den Lebensstil einer Person ermöglichen können, die wiederum Dritte missbräuchlich nutzen könnten. Daher kommt der Sicherheit der Daten mit Blick auf die Patientenautonomie eine besondere Bedeutung zu.
Das Potenzial einer Schädigung entsteht hierbei durch mögliche Verletzungen des Datenschutzes. Unterscheiden lassen sich dabei verschiedene Schadensformen: Schäden, die (psychisch) durch das bloße Wissen um eine nicht autorisierte Weitergabe der eigenen Gesundheitsdaten entstehen können. Weiterhin Schäden, die aus einer Veröffentlichung der Gesundheitsdaten und einer damit einhergehenden Stigmatisierung, etwa infolge einer veröffentlichen Diagnose einer psychischen Erkrankung, resultieren können. Und schließlich Schäden in Gestalt von Benachteiligungen oder Diskriminierung durch Institutionen wie etwa einem Arbeitgeber oder Versicherungsunternehmen, die infolge der Einsicht in persönliche Gesundheitsdaten eine bestimmte Ressource oder das Ausüben einer Tätigkeit, etwa eine Anstellung, verwehren. So wurden in der Vergangenheit beispielsweise Daten zur psychischen Gesundheit in einem Fall von Datenmissbrauch in Dänemark unautorisiert zwischen staatlichen Institutionen weitergegeben, sodass Anträge auf Aufnahme in das Militär oder aber auch die Beantragung des Führerscheins der betroffenen Personen verzögert bearbeitet oder abgelehnt wurden. Eine unautorisierte Verwendung kann ungewünschte personalisierte Werbung, aber auch schwerwiegendere Formen der missbräuchlichen Nutzung von Daten wie Diskriminierung, Stigmatisierung, Erpressung oder Identitätsdiebstahl einschließen.
Die Schwere der möglichen Schäden lässt sich zusätzlich entlang des Stigmatisierungspotenzials der jeweiligen Gesundheitsdaten bemessen: So bergen etwa die unautorisierte Weitergabe und etwaige missbräuchliche Nutzung von Informationen über eine psychische Störung höhere Schadenspotenziale für eine Person als die ungewollte Freigabe und Auswertung von z. B. Abrechnungsdaten. In der Abwägung einer Freigabe von Behandlungsdaten für die Forschung mit der Patientenautonomie ist zu beachten, wie hoch die tatsächlichen Risiken solcher Datenschutzverletzungen sind, inwiefern sie durch geeignete Rahmenbedingungen, etwa Supervisionsgremien, wirksam reduziert werden können (vgl. Die Regulierung der Forschung an Behandlungsdaten) und wie stark der mögliche Schaden im Vergleich zu den geschilderten Potenzialen der Forschung zu gewichten ist. Gerade mit Blick auf die Forschungspotenziale bleibt zu erwägen, inwiefern die oftmals personenbezogene Speicherung von Gesundheitsdaten etwa in Krankenhäusern nicht eine ähnliche Gefahr möglicher Datenschutzverletzungen birgt, in diesem Kontext jedoch gesellschaftlich überwiegend akzeptiert und breitflächig praktiziert wird (vgl. den Abschnitt Autonomie versus Hilfs- und Gemeinwohlpflichten).
Varianten der informierten Einwilligung
Der Schutz der Fähigkeit von Patient*innen, über die Erhebung, Nutzung und Weitergabe ihrer klinischen Daten zu verfügen, lässt sich auf das übergreifende Prinzip der Achtung der Autonomie von Personen zurückführen. Derivate der Autonomie sind die Institution der ärztlichen Schweigepflicht und das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung. Sie tragen der Sensibilität der Behandlungsdaten und dem Recht der Person Rechnung, über diese Daten und ihre mögliche Nutzung zu verfügen. In dem besonderen Kontext der medizinischen Forschung ist die Institution der informierten Einwilligung wiederum zentraler Ausdruck des Schutzes der Autonomie von Personen.
Die Achtung der Autonomie von Proband*innen und Patient*innen wird bei Behandlungen wie auch bei medizinischer Forschung an Menschen unter anderem über das Erfordernis der informierten Einwilligung gewährleistet. Bei der Forschung an Behandlungsdaten fallen beide Kontexte zusammen: Es werden Daten über Patient*innen erhoben, die anschließend in einer Studie Eingang finden und somit zu Probandendaten werden. Bisher in der medizinischen Forschung etablierte Verfahren der informierten Einwilligung können bei der Forschung an Behandlungsdaten jedoch nur zum Teil Anwendung finden. Anders als bei klinischen Studien, in denen die beteiligten Proband*innen über eine konkrete Studie aufgeklärt werden und hierzu ihre Einwilligung erteilen oder verweigern, werden Behandlungsdaten oftmals mehrfach und über längere Zeiträume unter immer neuen Fragestellungen einbezogen. Die informierte Einwilligung in jede einzelne Studie ist dabei erschwert, weil sich zum Zeitpunkt der Freigabe der Daten für die Forschung oftmals noch nicht absehen lässt, in welcher Studie die Daten mit welchem Ziel untersucht werden.
Als Reaktion hierauf wurden verschiedene Varianten der informierten Einwilligung entwickelt und diskutiert. In Abgrenzung zur informierten Einwilligung erfordert die sogenannte breite Einwilligung keine detaillierten Informationen über die spezifische spätere Nutzung der Daten in einer Studie, es werden lediglich allgemeine, exemplarische Nutzungsformen und Zielsetzungen erläutert und anschließend Einwilligungen erbeten. Eine Schwierigkeit an diesem Modell besteht darin, dass die breite Einwilligung also nur anteilig „informiert“ erfolgt. Eine Möglichkeit zur Abmilderung dieser Schwierigkeit besteht in der Schaffung sogenannter Treuhandstrukturen, also von neutralen Gremien, die stellvertretend auch längerfristig die Wahrung der Interessen der Proband*innen bei der Nutzung der Behandlungsdaten beaufsichtigen.
Die Variante der dynamischen Einwilligung beruht hingegen auf einer immer wieder aktualisierten Einwilligung in eine weitere Nutzung der Behandlungsdaten in einer neuen Studie. Sie erfordert entsprechende Technologien wie etwa Apps, über die die Individuen bei jeder neuen Studie immer wieder in die Nutzung ihrer Behandlungsdaten einwilligen oder davon absehen können. Eine Schwierigkeit dieser Variante der Einwilligung besteht insbesondere in den technologischen Voraussetzungen sowie der gegebenenfalls als ermüdend empfundenen Anforderung an die Datenspendenden, immer wieder Aufklärungen über Studien und Einwilligungsprozeduren durchlaufen zu müssen.
Eine weitere Variante, die sogenannte Widerspruchslösung, setzt zunächst die Einwilligung der Personen in die Nutzung ihrer Behandlungsdaten voraus. Verbunden ist dieses Modell mit der Möglichkeit der einzelnen Patient*innen, niedrigschwellig einer Nutzung ihrer Daten zu widersprechen. Die Widerspruchslösung ermöglicht einen breiten Zugang zu Behandlungsdaten und erfordert kaum Aufwand von Seiten der Patient*innen. Aus ethischer Sicht wird jedoch debattiert, ob diese Lösung ausreichend die Autonomie respektiert, die in der Medizin sonst üblicherweise durch aktive Einwilligung berücksichtigt wird.
Eine übergreifende Herausforderung der Aufklärung im Zuge aller Formen der informierten Einwilligung besteht in der Forschung an Behandlungsdaten darin, den Ertrag dieser Nutzung für die Forschung von dem für die einzelnen Personen zu unterscheiden. Es gilt dabei insbesondere dem therapeutischen Missverständnis vorzubeugen, bei dem Einzelpersonen fälschlicherweise annehmen, dass die Teilnahme an einer wissenschaftlichen Studie Erträge generieren wird oder könnte, die ihnen selbst unmittelbar zugutekommen. Gerade bei der Forschung an Behandlungsdaten liegt eher selten ein unmittelbarer eigener Nutzen vor.
Autonomie versus Hilfs- und Gemeinwohlpflichten
Während die verschiedenen Ansätze der informierten Einwilligung ausleuchten, unter welchen Bedingungen eine Nutzung von Behandlungsdaten für die medizinische Forschung von den jeweiligen Patient*innen unter Wahrung der Autonomie der Patient*innen möglich sein könnte, setzt ein anderer Diskussionsstrang an dem Stellenwert des Gemeinwohls an. Der Vorstellung einer „Datenspende“ oder gar eines „Datenaltruismus“ steht hier einer möglichen Pflicht gegenüber, Daten bereitzustellen. Aus dieser Perspektive haben die einzelnen Patient*innen als Mitglied einer solidarischen Gemeinschaft die Verpflichtung zum Gemeinwohl, hier genauer zum medizinischen Fortschritt, beizutragen. Ob wiederum Bedenken hinsichtlich des Schutzes der persönlichen Daten von Seiten der Patient*innen für eine Abschwächung oder Aushebelung der Beitragspflicht ausreichen, ist dabei umstritten.
Befürwortende einer Bereitstellungspflicht der Behandlungsdaten für die medizinische Forschung verweisen etwa darauf, dass Behandlungsdaten ohnehin erfasst und somit bereits jetzt der (geringen) Gefahr einer missbräuchlichen Verwendung ausgesetzt seien. Zudem sei die Gefahr einer unautorisierten Datennutzung insgesamt als klein zu bemessen. Die Weitergabe von Behandlungsdaten an Forschungseinrichtungen unter entsprechenden Datenschutzvorkehrungen erhöhe demzufolge das Risiko nicht in einem solchem Ausmaß, als dass ein grundsätzlich anderer Umgang mit diesen Daten gerechtfertigt wäre. Weiterhin sei auf der Gegenseite der mögliche Ertrag der medizinischen Forschung sowie der Beitrag der einzelnen Datensätze besonders stark zu gewichten. Es gehe nicht bloß um den Verzicht auf eine punktuelle Verbesserung der Gesundheitsversorgung zum Schutze persönlicher Daten. Vielmehr sei der Preis der Nichtnutzung von Gesundheitsdaten für die Allgemeinheit sehr hoch, da die Forschung an diesen Gesundheitsdaten häufig im klinischen Alltag auftretende Behandlungsfehler identifizieren und somit großflächig Schaden abwenden könne.
3. Gesundheitsberufe, Patientenwohl und medizinische Forschung
Die grundsätzliche Spannung, die zwischen der Förderung des Patientenwohls sowie der Unterstützung medizinischer Forschung entstehen kann, schlägt sich auch in möglichen Rollenkonflikten des Gesundheitspersonals nieder. Gesundheitsfachkräfte sind zunächst dem Patientenwohl verpflichtet. Zugleich beruht eine gute Gesundheitsversorgung auch auf einer Wahrung und bestenfalls Verbesserung der Versorgungsqualität durch die medizinische Forschung. Auch wenn man daher dem „Primat des Patientenwohls“ zustimmt, ist das Gesundheitspersonal zumindest sekundär zugleich der Förderung medizinischer Forschung verpflichtet.
Ein möglicher Konflikt zwischen der Nutzung von Behandlungsdaten für die medizinische Forschung und der Förderung des Patientenwohls ist der Arbeitsaufwand für ärztliches wie pflegendes Personal beim Erfassen der entsprechenden Daten. Es muss gewährleistet sein, dass der zusätzliche Aufwand, der für die Erfassung dieser zusätzlichen Daten entsteht, keine negativen Effekte für die Patientenversorgung auslöst, wie etwa weniger Zeit für ein Gespräch zwischen Behandlungs- bzw. Pflegepersonal und Patient*innen.
Eine andere Gefährdung ist beispielsweise die Verteilung des Schwerpunktes von Patienteninteressen hin zur „Logik“ der Datenerfassung für die Forschung. Diese Herausforderungen erfordern als Antwort eine passende Regelung für die entsprechende Anerkennung und Vergütung dieser Zusatzleistung sowie das Bereitstellen einer entsprechenden technologischen Infrastruktur wie etwa gut zu bedienender Software zur Eingabe der Daten. Auch muss das Personal entsprechend geschult sein, um die spätere Verwertung der Behandlungsdaten entsprechend zu ermöglichen.
Neben dem Erfassen der für die Forschung aussagekräftigen Daten fällt es ergänzend in den Aufgabenbereich des Gesundheitspersonals, die Aufklärung zur Nutzung der Behandlungsdaten für Forschungszwecke durchzuführen und daran anschließend die mögliche Einwilligung zu erfragen und zu dokumentieren. Dies umfasst allem voran die Erläuterung der Chancen und Risiken einer Datenweitergabe, etwa der Chance des Beitrags zu einer spezifischen Erkenntnis und Risiken wie etwa Datenlecks. Insbesondere medizinisches Fachpersonal kann sich in dieser Funktion mit zusätzlichen Erwartungshaltungen von Patient*innen konfrontiert sehen, etwa hinsichtlich der Güte der Aufklärung, als primäre Adressat*innen bei etwaigen Datenschutzverletzungen und ganz generell als Dienstleister*innen für Fragen rund um die Forschung. Das Vertrauensverhältnis, das als Voraussetzung für eine gute Beziehung zwischen Ärzt*innen und Patient*innen gilt, kann dann etwa beeinträchtigt werden, wenn diese Erwartungshaltungen in der Praxis nicht erfüllt werden können.
Da insgesamt jedoch ärztliches Handeln wie auch medizinische Forschung an Behandlungsdaten auf die Verbesserung der Patientenversorgung abzielt, entstehen diese Zielkonflikte eher auf der Ebene der Umsetzung und können gegebenenfalls durch entsprechende Regulierungen und Rahmenbedingungen verhindert oder abgeschwächt werden.
4. Die Regulierung der Forschung an Behandlungsdaten
Die Nutzung der dargelegten Potenziale von medizinischer Forschung an Behandlungsdaten erfordert eine institutionelle Struktur, die die hiermit ebenfalls verbundenen Schadenspotenziale möglichst gering hält. Angelehnt an die insbesondere rechtliche Regulierung der klinischen Forschung an Menschen müsste eine etwa Governance-Struktur anleiten, welche Typen von Forschungsvorhaben an Behandlungsdaten das Votum einer Forschungsethikkommission erfordern. Da sich die Forschung an Behandlungsdaten zwischen allgemeinen Qualitätskontrollen der Gesundheitsversorgung, die in der Regel keine Begutachtung durch eine Ethikkommission erfordern, und Forschung an Menschen bewegt, die eine ethische Begutachtung benötigt, scheint hier eine Zuordnung und Regelung vonnöten. Eine ethische Aufsicht dieses Forschungstyps, die zugleich die Wahrung des Patientenwohls gewährleistet und hochrangige Forschung ermöglicht, erfordert dabei voraussichtlich auch stärker dynamische Modelle der ethischen Begutachtung.
Entlang der in der biomedizinischen Ethik breit anerkannten Prinzipien der Achtung der Autonomie, der Benefizienz, des Nichtschadens und der Gerechtigkeit wurden bisher weitere Anforderungen an eine Governance-Struktur diskutiert, die die Forschung an Behandlungsdaten einrahmen sollte. Im Sinne der Benefizienz und der Ausrichtung der Gesundheitsversorgung an dem individuellen Patientenwohl muss der Rahmen für Forschung an Behandlungsdaten etwa so gestaltet sein, dass ärztliches und pflegendes Personal durch die Datenerhebung nicht so ausgelastet ist, dass dadurch die Qualität der Versorgung der Einzelnen abnimmt. Zugleich lässt sich aus der Benefizienz die Notwendigkeit ableiten, Forschung an Behandlungsdaten zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung zu ermöglichen und den hierfür erforderlichen Rahmen zu schaffen.
Erwägungen der Autonomie haben in den vorhergehenden Abschnitten bereits die Notwendigkeit unterstrichen, geeignete Formen der informierten Einwilligung in die Forschung an den eigenen Behandlungsdaten auszumachen. Dies schließt auch die Schaffung von Treuhandstrukturen ein, die bei einer späteren Nutzung von Behandlungsdaten stellvertretend die Autonomie der Einzelnen schützen.
Ebenso zum Schutz der Autonomie wie auch zur Wahrung des Prinzips der Gerechtigkeit ist zudem der Aufbau einer Struktur zu gewährleisten, die bei tatsächlich erfolgtem Datenmissbrauch Sanktionen erlässt und längerfristig einem Vertrauensverlust der Gesellschaft entgegenwirken kann.