Kontroverse um genomeditierende Verfahren bei Lebens- und Futtermitteln

Zentraler Streitpunkt ist vor allem die abweichende Auslegung der Freisetzungsrichtlinie (2001/18/EG). So herrscht beispielsweise Uneinigkeit darüber, ob der Begriff des GVO darin prozessorientiert oder ergebnisorientiert zu verstehen ist. Bei der Prozessorientierung liegt der Fokus des Bewertungskriteriums auf dem Herstellungsverfahren, wohingegen bei der Ergebnisorientierung der Fokus auf dem Produkt des Herstellungsverfahrens liegt.

Diese Streitfrage war Gegenstand eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 25. Juli 2018).  Der französische Landwirtschaftsverband Confédération paysanne hatte zusammen mit acht weiteren Verbänden Klage gegen die bis dahin geltende französische Regelung eingereicht, der zufolge durch Mutagenese gewonnene Organismen von der GVO-Richtlinie ausgenommen sind. Die Begründung lautete, dass Mutagenese-Verfahren im Gegensatz zu Transgenese-Verfahren Veränderungen in den Organismen bewirkten, die auch auf natürliche Weise entstehen können. Die Klage bezog sich vor allem auf die seit dem Erlass der GVO-Richtlinie neu entwickelten Mutagenese-Methoden, mit denen sich in vitro gezielte Mutationen erreichen ließen und auf die Resistenz gegen bestimmte Herbizide abzielten. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs stellte fest, dass durch Mutagenese gewonnene Organismen genetisch veränderte Organismen (GVO) sind und grundsätzlich den in den GVO-Richtlinien niedergelegten Verpflichtungen unterliegen. Durch die (neuen) Verfahren und Methoden der Mutagenese würde eine Veränderung am genetischen Material eines Organismus vorgenommen, die nicht auf natürliche Weise entstehen könne. Hingegen die mit Mutagenese-Verfahren gewonnenen Pflanzenarten, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen verwendet wurden und seit langem als sicher gelten, sind von dieser Verpflichtung ausgenommen.

Ein einführender Überblick zu dem Gegenstand der Diskussion findet sich z. B. hier

Irmer, Juliette (2016): Gentechnik mit ohne Gene? In: Spektrum (04.04.2016). Online Version

Weiterführende Informationen:

Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. März 2001 Online Version

Gerichtshof der Europäischen Union: Pressemitteilung Nr. 111/18 vom 25. Juli 2018, Urteil in der Rechtssache C-528/16. Online Version 

Europäische Kommission (2021): Untersuchung zu dem Status neuartiger genomischer Verfahren im Rahmen des Unionsrechts und im Lichte des Urteils des Gerichtshof in der Rechtssache C-528/16 (Zusammenfassung). Online Version 

Positionspapiere von Angehörigen einer Vielzahl europäischer Forschungsorganisationen können hier eingesehen werden: 

European Academies’ Science Advisory Council (EASAC) (2015): New breeding techniques. Online Version (Englisch) 

Bericht der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH) (2018): Vorsorge im Umweltbereich. Ethische Anforderungen an die Regulierung neuer Biotechnologien Online Version

Öffentliche Stellungnahme europäischer wissenschaftlich Tätigen (2019) Online Version

Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina / Deutsche Forschungsgemeinschaft / Union der deutschen Akademie der Wissenschaften (2019): Wege zu einer wissenschaftlich begründeten, differenzierten Regulierung genomeditierter Pflanzen in der EU. Kurzfassung der Stellungnahme. Online Version

Kritische Positionen und Forderungen einer Anpassung der Rechtslage werden auch auf deutscher Ebene geäußert. Siehe z. B. 

Grüne Gentechnik e.V. / Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (2018): Offener Brief an die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek und die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner. Nach dem EuGH-Urteil zu Genome Editing – Die Politik ist am Zug. Online Version

BUND e.V. (2021): Gemeinsames Positionspapier "Gentechnik auch in Zukunft streng regulieren!" von 94 Verbänden. Online Version

Am 5. Juli 2023 veröffentlichte die EU-Kommission einen Entwurf für eine neue Verordnung zum Umgang mit neuen Gentechnikmethoden in Pflanzenzucht und Landwirtschaft. Der Entwurf sieht vor, zwei verschiedene Kategorien sowie entsprechende Regelwerke für NGT-Pflanzen (Neue genomische Techniken) einzuführen. Die Kategorie der NGT1-Pflanzen umfassen einfach editierte Pflanzen, die mit neuen Verfahren wie der Gen-Schere CRISPR/Cas gezüchtet wurden, und als gleichwertig mit herkömmlichen Pflanzen gelten. Für diese NGT1-Pflanzen sollen künftig u.a. Zulassungsverfahren und Freilandversuche erleichtert werden. Die Kriterien für NGT1-Pflanzen wurden in einem Annex zu den bestehenden Gentechnik-Gesetzen festgelegt. Für eine endgültige Form des Gesetzes befindet sich das Parlament in Verhandlungen mit den Mitgliedsstaaten. In die Kategorie der NGT2-Pflanzen fallen dann alle übrigen gentechnisch veränderten Pflanzen, die nicht als gleichwertig mit herkömmlichen Pflanzen gelten können. Für diese NGT2-Pflanzen sollen die GVO-Rechtsvorschriften der EU weiterhin gelten.

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über mit bestimmten neuen genomischen Techniken gewonnene Pflanzen und die aus ihnen gewonnenen Lebens- und Futtermittel sowie zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/625. Online Version (Englisch)

Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina zum Vorschlag der Europäischen Kommission (2023). Online Version (Englisch)

Der Status genomeditierender Verfahren ist in anderen Ländern unterschiedlich. So gab etwa das U.S. Department of Agriculture (USDA) im Jahre 2018 eine Stellungnahme heraus, in dem es klarstellte, dass es keine Pflanzen reguliere, die Veränderungen aufwiesen, welche auch durch konventionelle Züchtungsmethoden erreicht werden könnten. Dies betreffe auch den Einsatz präziser Methoden zur Genomeditierung, wie z. B. CRISPR-Cas9. Das USDA sagte, es wolle Innovation nicht behindern, solange damit keine erwiesenen Risiken verbunden seien.

Stellungnahme des USDA (2018) Online Version (Englisch)

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