Dammbruchargument im Fall von aktiver Sterbehilfe
Allgemeines zu Dammbruchargumenten
Ein Dammbruchargument (auch „Argument der schiefen Ebene“ oder „slippery slope“) ist eine Argumentationsfigur, mit der eine Handlung, die für sich genommen moralisch akzeptabel ist, abschließend als moralisch unzulässig ausgewiesen wird, weil sie moralisch inakzeptable Konsequenzen hat. Allgemein lassen sich anhand zweier möglicher Konsequenzen zwei Varianten von Dammbruchargumenten unterscheiden: die kausale Variante und die begriffliche Variante.
Die kausale Variante postuliert, dass die Einführung einer für sich genommen moralisch akzeptablen Praxis mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dazu führt, dass sich künftig auch eine moralisch inakzeptable Praxis etabliert. Deshalb sollte die für sich genommen moralisch akzeptable Praxis entgegen dem ersten Anschein besser nicht eingeführt werden. Eine wiederkehrende Schwachstelle kausaler Dammbruchargumente besteht darin, dass es in den meisten Fällen schwer bis unmöglich ist, seriös genaue Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten der unerwünschten Folge anzugeben. Selbst wenn in Einzelfällen plausible Wahrscheinlichkeiten ausgemacht werden können, so ist ein kausales Dammbruchargument nur dann valide, wenn die negative Folge hinreichend gewichtig und ihre Eintrittswahrscheinlichkeit hoch genug ist, um die absehbaren Vorteile aufzuwiegen, die mit der Einführung der moralisch akzeptablen Praxis einhergehen.
Die begriffliche Variante des Dammbrucharguments kommt häufig in einer bestimmten Spielart vor, der sogenannten Vagheitsvariante: Wenn Handlung (1) zulässig ist, dann ist auch eine minimal davon abweichende Handlung (2) zulässig, was wiederum eine darüberhinausgehende Handlung (3) rechtfertigt usw. So gelangt man schließlich zu einer Handlung (n), die für sich genommen moralisch inakzeptabel ist. Da Handlung (n) aber über eine Kette minimal abweichender Handlungen mit Handlung (1) logisch zusammenhängt, ist, so das Argument, bereits Handlung (1) unzulässig. Begriffliche Dammbruchargumente können daran scheitern, dass die minimalen Unterschiede zwischen den fraglichen Handlungen ethisch relevant sind, sodass nur die Einführung von Handlung (1) gerechtfertigt ist, nicht aber die Einführung von Handlungen (2) bis (n).
Ob ein Dammbruchargument die skizzierten theoretischen Mängel aufweist oder nicht, ist im Einzelfall zu prüfen.
Dammbruchargumentation im Fall von aktiver Sterbehilfe
Eine häufig in Gesellschaft und moralphilosophischer Literatur auftretende, kausale Variante eines Dammbrucharguments gegen die Legalisierung von aktiver Sterbehilfe lautet: Die Legalisierung von aktiver Sterbehilfe, die auf einer autonomen Entscheidung der oder des Betroffenen beruht, wird wahrscheinlich dazu führen, dass sich in einigen Teilen der Bevölkerung und des medizinischen Personals die Erwartungshaltung herausbildet, dass schwerkranke, leidende Menschen in bestimmten Situationen aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen sollten. Aufgrund einer solchen (oder auch aufgrund einer lediglich von Betroffenen imaginierten) Erwartungshaltung käme es dann in einigen Fällen zur Inanspruchnahme von aktiver Sterbehilfe auch von solchen Personen, die eigentlich weiterleben möchten. Das aber wäre moralisch inakzeptabel, sodass aktive Sterbehilfe nicht legalisiert werden sollte.
Diese Variante des kausalen Dammbrucharguments ist an seinen zentralen Stellen unbestimmt: Wie groß sind die einzelnen Wahrscheinlichkeiten dafür, dass X-viele Menschen eine entsprechende Erwartungshaltung zur Inanspruchnahme von aktiver Sterbehilfe ausbilden? Wie groß sind die Wahrscheinlichkeiten, dass infolge der Erwartungshaltung Y-viele Menschen aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen, die eigentlich weiterleben möchten? Die Beantwortung dieser Fragen wird auch stark davon abhängen, wie eine rechtliche Regelung von aktiver Sterbehilfe konkret ausgestaltet wird. Missbrauchsrisiken können etwa durch umsichtig eingerichtete Beratungsstellen und Fristenregelungen vermindert werden. Doch selbst wenn zufriedenstellende Antworten auf diese empirischen Fragen gefunden werden können, so gilt es abzuwägen. Denn zu beachten ist auch, dass eine bestimmte Anzahl von Menschen, die sich autonom zur Inanspruchnahme von Sterbehilfe entschließen, von der Legalisierung von Sterbehilfe profitieren wird. Wie groß darf das Missbrauchsrisiko und wie groß muss die Anzahl derjenigen Personen sein, denen aktive Sterbehilfe zugutekommt, damit eine Legalisierung von Sterbehilfe gerechtfertigt oder gar geboten ist?
Weiterführende Literatur zur allgemeinen Struktur von Dammbruchargumenten
Burg, W. (1991): The Slippery Slope Argument. In: Ethics 102, 42–65.
Dübner, D. / Rojek, T. (2015): Argument der schiefen Ebene. In: Sturma, D. / Heinrichs, B. (Hg.): Handbuch Bioethik. Heidelberg: J.B. Metzler Stuttgart, 9–13.
Habermas, J. (2023): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? [2001]. Frankfurt a. M: Suhrkamp.
Walton, Douglas (1992): Slippery Slope Arguments. New York: Oxford University Press.
Weiterführende Literatur zur Dammbruchargumentation im Fall der aktiven Sterbehilfe
Guckes, B. (1997): Das Argument der schiefen Ebene. Schwangerschaftsabbruch, die Tötung Neugeborener und Sterbehilfe in der medizinethischen Diskussion. Stuttgart: Gustav Fischer.
Klampfer, F. (2019): Euthanasia Laws, Slippery Slopes, and (Un)Reasonable Precaution. In: Prolegomena 18 (2), 121–147. Online Version
Für empirische Befunde zu aktiver Sterbehilfe in den Niederlanden siehe
Regional Euthanasia Review Committees: Annual Reports. Online Version