Ethische Herausforderungen bei der Behandlung Minderjähriger mit hormonsuppressiven Mitteln
Autor: Fabian Fischbach
Das Thema der Verabreichung von Pubertätsblockern (PB) bei minderjährigen, geschlechtsinkongruenten Personen wird schon seit längerem kontrovers in den deutschen Medien diskutiert, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der neuen „S2k-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter“ der AWMF, die seit März 2024 zur Diskussion freigegeben wurde. Im Folgenden sollen einige Positionen vorgestellt werden, die dabei helfen können, die zentralen ethischen Herausforderungen im
Zusammenhang mit der medizinischen Behandlung von minderjährigen Trans*-Personen besser zu verstehen. Bei PB handelt es sich um hormonsuppressive Mittel, die, solange sie eingenommen werden, die pubertäre Entwicklung von sekundären Geschlechtsmerkmalen unterbinden sollen, u. a. um mögliche größere chirurgische Eingriffe zu einem späteren Zeitpunkt verhindern zu können und Zeit zu gewinnen, in der die Jugendlichen sich vor dem Ergreifen irreversibler Maßnahmen über ihre Trans*-Identität klarer werden können.

Die medizinische Begleitung jugendlicher Trans*-Personen findet in einem von Diskriminierungen und Stigmatisierungen geprägten gesellschaftlichen Klima statt, dessen Auswirkungen bis in die Kernfamilie hineinreichen können. Die psychische Gesundheit jugendlicher Trans*-Personen, die von ihren Erziehungsberechtigten in ihrer Geschlechtsidentität nicht unterstützt und bestätigt werden, kann massiv unter der ständigen Auseinandersetzung und Nicht-Anerkennung leiden. Gleichzeitig sind Betroffene jedoch häufig
auf deren Unterstützung angewiesen, insbesondere, wenn es um die Einwilligung bei trans*-spezifischen Behandlungen geht. Priest nimmt diesen von ihr als potenziell missbräuchlich dargestellten Sachverhalt in ihrem Aufsatz „Transgender Children and the Right to Transition: Medical Ethics When Parents Mean Well but Cause Harm“ zum Ausgangspunkt, um umfassend für das Selbstbestimmungsrecht von jugendlichen Trans*-Personen und einen erleichterten Zugang zu PB zu argumentieren. PB wären der medizinische Standard für die „Behandlung“ von Trans*-Personen und dürften diesen, wenn weitere qualifizierende Kriterien erfüllt seien, nicht auf Grundlage einer Weigerung durch die Eltern verwehrt werden, da sie eine zentrale Rolle bei der Eindämmung von Genderdysphorie (GD) spielen können. GD definiert Priest als das Gefühl fehlender Verbundenheit und Unwohlsein hinsichtlich des Unterschieds zwischen dem eigenen biologischen Geschlecht und der Geschlechtsidentität, das in Kombination mit weiteren Faktoren zu massiven psychischen Problemen führen kann. Das Einsetzen der Pubertät stelle dabei eine besonders kritische Phase dar, da der Beginn der Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale sich für Trans*-Personen anfühle, als „würden sie von ihrem Körper betrogen werden“, woraus sich der Wunsch nach pubertätsaufhaltenden Maßnahmen ergibt. PB seien nach Priest eine eindeutig Lösung für GD-spezifische psychische Probleme, die im Vergleich zu späteren chirurgischen Eingriffen weniger gefährlich und kosmetisch unauffälliger sei. Eine potenzielle Sorge darum, dass Kinder in diesem Alter noch wankelmütig und unreif sind und keine dauerhaften körperlichen Eingriffe an sich durchführen lassen sollten, teilt Priest nicht, da die Behandlung mit PB „vollständig reversibel“ sei und pubertäre Entwicklungen zu einem anderen Zeitpunkt fortgesetzt werden könnten. Ob minderjährige Trans*-Personen diese Vorteile genießen können, sollte laut Priest nicht von den Eltern abhängig sein. Es handele sich bei einer Verweigerung durch diese um eine Missachtung der Autonomie jugendlicher Trans*-Personen und um eine aktive psychische Schädigung, die Priest, auf eine erhöhte Suizidalität von Trans*-Personen verweisend, mit dem Verweigern von Bluttransfusionen aus religiösen Gründen vergleicht. Der Staat sei entsprechend dazu verpflichtet, Jugendlichen unabhängig von der elterlichen Einwilligung Zugang zu genderaffirmativen Behandlungen und Informationen zu GD zu gewähren.

Priests Argumentation kann als Vorstoß erachtet werden und wurde in derselben Ausgabe des American Journal of Bioethics mit einer Reihe von Kommentaren bedacht, welche einige zentrale Kritikpunkte herausstellen, die für die weitere Diskussion um die Nützlichkeit und Zulässigkeit von PB als repräsentativ erachtet werden können.

Coleman beispielsweise wirft Priest in ihrem Kommentar „Transgender Children, Puberty Blockers, and the Law: Solutions to the Problem of Dissenting Parents“ in mehreren Punkten fehlende Präzision in ihren Analogien und unzureichende Evidenz vor. GD stelle für jugendliche Trans*-Personen, anders als im Kontext unmittelbar benötigter Bluttransfusionen, keine im selben Sinne lebensbedrohliche Situation dar, sodass der Staat hier keine Eingriffsrechte habe. Die Ursachen psychischer Erkrankungen seien zudem in der Regel komplexer, sodass das Verweigern des Zugangs zu PB nicht ohne Weiteres als alleinige Ursache für eine erhöhte Suizidalität angeführt werden könne. Psychische Probleme, die im Zusammenhang mit GD auftreten, sollten nicht auf diese reduziert werden und müssten in ihrer Komplexität anerkannt werden. Der Fokus auf Suizidalität bei Priest diene außerdem dem argumentativen Zweck, eine psychische Gefährdung jugendlicher Trans*-Personen durch nicht unterstützende Eltern um eine körperliche Gefährdung zu ergänzen, um damit stärkere staatliche Eingriffe zu legitimieren. Laut Coleman ginge dieser Ansatz jedoch nicht auf, da Suizid ein von Jugendlichen selbst verursachter Schaden sei, den zu verhindern nicht den Eingriffsrechten des Staats entspräche.

Sowohl Harris et al. in „Decision Making and the Long-Term Impact of Puberty Blockade in Transgender Children“ als auch Levine et al. in „Reconsidering Informed Consent for Trans-Identified Children, Adolescents, and Young Adults“ stellen sich gegen Priests lockeren Umgang mit einer potenziell mangelnden geistigen Reife. Harris et al. weisen dabei auf verschiedene gesundheitliche Langzeitfolgen hin, wie etwa einen Rückgang in der Knochendichte oder eine potenzielle Unfruchtbarkeit und darauf, dass diese bei der informierten Einwilligung von Jugendlichen nicht unbedingt adäquat eingeschätzt werden können. Levine et al. gehen in ihrer Kritik noch einen Schritt weiter, indem sie den Forschungsstand zu der Wirksamkeit von PB im Allgemeinen kritisch in Frage stellen und dabei an beinahe sämtlichen empirischen Grundthesen Priests Argumentation Zweifel aufkommen lassen. Die Aufklärung Behandlungssuchender durch die Behandelnden erfolge häufig unzureichend und vernachlässige die Vermittlung der Risiken, Vorteile und Alternativen von Hormontherapien oder würde durch falsche Annahmen auf Seiten der Behandelnden verzerrt. Für Priests Behauptung, dass das Einleiten von geschlechtsanpassenden Maßnahmen dazu beitrage, Depressionen und andere psychische Probleme im Zusammenhang mit GD einzudämmen, gibt es laut Levine et al. keine guten Belege, während die negativen Nebeneffekte umfassend nachgewiesen seien. Die psychischen Probleme betroffener Trans*-Personen seien der GD häufig vorausgehend und das auch von Priest bediente „Transition or Suicide“-Narrativ faktisch falsch. Es gebe zwar eine erhöhte Suizidalität von Transpersonen, allerdings sei diese nicht in einem solchen Maße pandemisch, wie es von PB-Befürwortenden wie Priest häufig dargestellt wird. Die Reduktion psychischer Probleme von Transpersonen auf deren Trans*-Identität könne dazu führen, dass andere wichtige Versorgungsmaßnahmen unterlassen werden. Gleichzeitig gäbe es wenig Belege dafür, dass Personen, die eine Geschlechtsanpassung durchlaufen haben, danach weniger suizidal wären, denn die Suizidalität von Transpersonen bleibe in allen Stadien des Anpassungsprozesses konstant. Neben den körperlichen Auswirkungen sei ein weiteres Risiko, dass es keine Möglichkeit gebe vorherzusagen, ob Jugendliche ihre Trans*-Identität auch als Erwachsene beibehalten werden. Die vorläufige Aufklärung müsse diese Aspekte angemessen adressieren und die Einwilligung in die Behandlung explizit erfolgen, um dem hohen Grad an Risiken gerecht zu werden. Im Aufklärungsprozess sollten insbesondere die Langfristigkeit der Eingriffe, ihre teilweise Irreversibilität und die vage Erfolgsquote für die Verbesserung der psychischen Gesundheit, aber auch, was für die Behandlungssuchenden unabhängig vom sonstigen Weltbild der Eltern am besten sei, angesprochen werden. Levine et al. und Harris
et al. stimmen darin überein, dass die betroffenen Trans*-Personen zwar am Einwilligungsprozess beteiligt sein sollten, aber es könne nicht in allen Fällen davon ausgegangen werden, dass diese reif genug wären, um selbst als einwilligungsfähig zu gelten, weshalb eine Repräsentation durch die Eltern in vielen Fällen unabdingbar wäre.

Ein weiterer Kritikstrang an Priests Argumentation bezieht sich auf den gesellschaftlichen Kontext von Behandlungen mit PB und wird etwa von Franklin in „The Social Context of Adolescents’ Right to Transition“ als auch von Kariyawasam und Rai in „Taking the Long Way Around: Towards A Depathologized Ethical Framework of Gender-Affirming Care for Trans Youth“ eröffnet. Diesen Positionen zufolge handelt es sich bei der Behandlung mit PB nur um einen Teilbeitrag zur Verbesserung des psychischen Wohlergehens betroffener Trans* Personen, da dieses neben GD zusätzlich von umfassenden sozialen Dynamiken beeinflusst wird, gegen die mit PB allein nichts getan werden kann. Für Franklin präsentiert sich der alleinige Zugang zu einer pharmazeutischen Lösung als zu einfacher techno fix, da für das psychische Wohlergehen der Jugendlichen nicht allein körperliche Veränderungen vonnöten seien, sondern auch Akzeptanz und Unterstützung in unterschiedlichen Lebensbereichen, während Kariyawasam und Rai soweit gehen, das „Transition or Suicide“-Argument als Ausdruck einer cis-hetero-patriarchalen Dimension christlich geprägten Siedler:innenkolonialismus zu bezeichnen. Denn beide Aufsätze stimmen darin überein, dass Priests Ansatz und ähnliche Argumentationen binäre Denkweisen reproduzieren und die Ursache des Leids der Kinder und Jugendlichen in diesen selbst verorten, worin Kariyawasam
und Rai eine unzulässige Pathologisierung und ethische Abkürzung sehen, die den Zugang zu genderaffirmativen Behandlungsmethoden allein durch paternalistischen „Saviorism“ rechtfertigen. Das Problem sei aber vielmehr eine gesellschaftlich verbreitete und restriktive Denkweise und dass das volle Spektrum an Geschlechtsidentitäten und Entwicklungslinien nicht anerkannt werde. Die Pathologisierung diene der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher,
(neo-)kolonialistischer Machtstrukturen. Dabei würden die Autonomie der „Patient*innen“ weitestgehend ignoriert und restriktive und invasive Evaluationskriterien und Diagnosekriterien für die Bestimmung angemessener therapeutischer Maßnahmen herangezogen, die einer ganzheitlichen medizinischen Behandlung entgegenstehen und von Jugendlichen erfordern,
sich mit einer von zwei Geschlechtsidentitäten zu identifizieren, um Zugang zu medizinischer Unterstützung zu bekommen, weil sie sonst ggf. nicht als „trans* genug“ aufgefasst werden. Durch derartige Mechanismen wird die individuelle Erfahrung von jugendlichen Trans* Personen untergraben und sie werden dazu genötigt, sich binär zu identifizieren. Das solchen Zwängen folgende Hervorheben qualifizierender Erfahrungselemente durch Trans*-Personen
kann letztlich auch zu verzerrten Diagnosen und Indikationen führen.

Die Pathologisierung und damit verbundene Stigmatisierung und gesellschaftliche Ausgrenzung tragen dazu bei, dass Jugendliche früh dazu gedrängt werden, Behandlungen mit PB und Cross-Sex-Hormonen zu durchlaufen, um später besser in die gesellschaftlich akzeptierten Geschlechtskategorien zu passen und die Sichtbarkeit ihrer Transidentität zu reduzieren. Kariyawasam und Rai ist es ein zentrales Anliegen, dass die gesellschaftlichen
Strukturen, die derartigen Wünschen zugrunde liegen können, adressiert werden – etwa indem die Selbstidentifikation von Transpersonen bedingungslos anerkannt und ihrem Wunsch nach geschlechtsanpassenden Maßnahmen wie PB ernstgenommen und, bei entsprechender geistiger Reife und medizinischer Angemessenheit, unabhängig von sonstigen Personen nachgegeben wird. Auf einer strukturellen Ebene sei es wichtig, zu einem vollständigeren Verständnis darüber zu gelangen, was genderaffirmative Behandlungsmethoden für die Entwicklung von betroffenen Jugendlichen bedeuten. Es sei notwendig, hierbei binäre Geschlechtsidentitäten nicht länger als Standard anzusetzen und den Jugendlichen Raum zu geben, ihre eigene Identität zu erkunden. Kariyawasam und Rai stimmen mit Franklin darin überein, dass es für die gesellschaftliche Dimension von GD keine rein technische Lösung gibt, weshalb deren Adressierung unabdingbar ist.

Die Frage nach der Zulässigkeit einer frühjugendlichen Behandlung mit PB ist komplex und erfordert eine umfassende Abwägung von körperlicher und psychischer Gesundheit, der Autonomie der Behandlungssuchenden und einem nachvollziehbaren Bedürfnis, gesellschaftlichen Normen und Schönheitsidealen zu entsprechen. Gleichzeitig gibt die ethische Diskussion hierüber Anlass, die gesellschaftlichen Strukturen und binären Denkweisen, die eine GD bei Jugendlichen verschärfen, kritisch zu reflektieren, um auf einer
gesamtgesellschaftlichen Ebene anzusetzen. Dabei ist nicht nur entscheidend, wie wirksam PB im Einzelfall sind, sondern auch, auf welche Weise mit und über behandlungssuchende(n) Trans*-Personen gesprochen wird.
Bibliographie
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